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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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Überreste der Seidenbluse.
    Ich beschloss, bei ihr zu bleiben. Wie jede Ballerina hatte sie rührend hässliche Füße mit Knochenverwachsungen, verformten Zehen, verhornten Stellen und blauen Nägeln. Tanz ohne Schmerz gibt es nicht – Spitze tanzen kann ein Martyrium sein. Ich stellte mir vor, mit welcher Grazie sie früher auf der Bühne gestanden oder über sie geschwebt war – stets im Kampf mit ihrem Erzfeind, der Schwerkraft. Jetzt lag sie hier wie ein gestorbener Schwan. Ihre Würde hatte sie sich bis zum Schluss bewahrt.
    Dann sah ich den alten Mann: Ein Häftling zog ihn mithilfe seines Spazierstocks, den er ihm um die Kehle gelegt hatte, in einen Flur. Während er so über den Betonboden geschleift wurde, nahm er Erbrochenes und Blut mit. Zwei Gefangene untersuchten ihn mit professioneller Eile, zogen seine Arschbacken auseinander, um seinen Anus auf versteckte Schätze zu untersuchen. Nichts. Anschließend drehten sie den schlaffen, welken Körper um. Der eine öffnete gewaltsam seinen Mund. Der andere kontrollierte mit einem kleinen, runden Zahnarztspiegel die Mundhöhle und riss mit einem lauten Krachen einen Goldzahn heraus. Zahnfleisch hing auch noch mit dran. Die Krone warf er zu anderen in eine spezielle Holzkiste, die ein Deutscher genau im Auge behielt. Anschließend wurde die Leiche wie ein nutzlos gewordener Klumpen Fleisch weitergereicht.
    Das durfte Eva Mandelbaum nicht passieren.
    Ich schlang den gelben Schal um ihren Hals, um die Schuss wunde zu bedecken. Die Bluse breitete ich über ihren Körper, hob sie vorsichtig hoch. Sie war nicht schwer. Ich trug sie durch den Flur, vorbei an den Zahnziehern. Ein SS -Mann hielt mich auf.
    »Was machst du da? Kontrolle!«
    »Sie ist Tänzerin. Ich will …«
    »Sie ist Jüdin!« Er sah zu den Zahnziehern hinüber und zeigte auf ihren Kopf. »Kontrolle. Sofort.«
    Der Häftling mit dem kleinen Spiegel stellte sich neben mich und öffnete gewaltsam ihren Mund. Er hatte dem Deutschen den Rücken zugewandt und warf einen kurzen Blick in ihren Mund. Soweit ich das erkennen konnte, hatte sie mindestens zwei Goldzähne.
    »Nichts«, sagte der Zahnzieher und drückte ihr den Mund zu, doch der fiel wieder auf. Ich lief weiter und kam zu den Haarschneidern. Ich sah, wie ein Häftling den Knoten einer jungen Frau löste, das stumpfe, fettige Haar durch seine Finger gleiten ließ, eine Faust machte und einen dicken Strang auf einmal abschnitt. Er richtete sich auf.
    »Eva Mandelbaum«, sagte ich.
    Er blickte sich schnell nach dem SS -Mann um, der mit seiner Zahnkiste den Bunker betreten hatte, und wies mit dem Kinn auf den elektrischen Lift. Verschiedene Leiber waren darin bereits übereinandergestapelt. Ich legte sie dazu.
    Der Lift fuhr nach oben.
    Ich musste ebenfalls ins Erdgeschoss und rannte durch einen Gang, eine Treppe hinauf und dann durch einen weiteren Gang – mit etwas Glück fand ich den Raum, in dem der Lift ankam. Vier Häftlinge waren bereits dabei, ihn auszuladen. Zwei von ihnen stapelten die Leichen an der Wand. Zwei andere warfen Leichen wie Reissäcke auf eine Lore. Ich zeigte auf Eva Mandelbaum.
    »Kennen Sie sie?«, fragte einer von ihnen knapp. »Familie?«
    Ich nickte. Ja, ich kannte sie. Sie war Künstlerin. Ich nahm sie wieder in meine Arme. Die Lore war mit acht Erwachsenen, zwei Kindern und einem Baby voll beladen. Die beiden Häftlinge schoben sie durch einen Flur auf eine offen stehende, hölzerne Doppeltür zu. Ich folgte ihnen mit Eva.
    Wir erreichten die Öfen. Fünf nebeneinander, alle in Betrieb. Sie erinnerten mich an die Steinöfen in Bäckereien, die ebenfalls kleine Türen haben und oben rund sind. Die starke Hitze verschlug einem den Atem. Zig Gefangene in weißen Hemden oder mit nackten, schweißglänzenden, rußigen und fettig-grauen Oberkörpern waren hier beschäftigt. Sie legten zwei große Leiber und einen kleinen auf eine Eisenbahre und schoben sie mit den Köpfen voran ins Feuer. Ein Mann stieß die Leichen mit einem eisernen Schürhaken hinunter und zog die Bahre schnell wieder heraus.
    Am liebsten wäre ich mit dieser Frau davongelaufen, um sie in aller Stille zu begraben, in einem Wald, der nach modrigem Tannenholz und Erde roch. Aber dass sie nicht völlig anonym verschwand, dafür konnte ich sorgen.
    An einem der Öfen rauchten die Männer eine Zigarette. Um sie herum lagen stapelweise Leichen, darunter die einer schwangeren Frau. Einer von ihnen, ein grobschlächtiger Kerl, wischte sein Gesicht mit einem

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