Das Lachen und der Tod (German Edition)
das jüdische Volk an keinerlei Landesgrenzen hält und deshalb den Deutschen als minderwertig galt. Ein Clown weiß nichts. Das macht ihn für Kinder so unwiderstehlich.
Ich wusste nicht, was ich mit Grosso anfangen sollte. Ein Vorteil war, dass er keine Schreibmaschine brauchte – ihm genügte seine Mimik. Aber würde ich mit einem Clown in meiner unmittelbaren Nähe überhaupt ungestört arbeiten können?
Ich hörte ein Schnarchen. Abrupt schob er die Decke weg. Er drehte den Kopf und starrte mich verängstigt an.
»Hallo, Grosso«, sagte ich.
Er starrte mich weiterhin an.
Ich zeigte auf mich. »Ernst.«
»Ernest?« Seine Stimme war hoch, sein Akzent vielleicht Russisch – die osteuropäischen Sprachen hatte ich noch nie richtig auseinanderhalten können. Er setzte sich auf den Rand seiner Pritsche und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Du bist Clown«, sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen.
Seine Miene hellte sich auf. »Aaah. Clown. Ja. Für Kinder.«
Für Kinder. Den Eindruck hatte ich auch schon gehabt.
»Du? Clown?«, fragte er.
»Komiker.«
»Aaah, Ko-mi-ker.« Er starrte traurig vor sich hin. Wahrscheinlich kannte er das Wort nicht einmal.
Was ist der Unterschied zwischen einem Komiker und einem Clown? Wir gehören zur selben »Familie« und sind doch vollkommen verschieden. Grosso erinnerte an den Dum men August, ich eher an den Weißclown, den Clown des Wor tes. Ob meine Rolle mir zu einer größeren Überlebenschance verhalf, wagte ich nicht zu beurteilen.
Es war nach neun, als ich hörte, wie es an die Tür klopfte. Ich machte auf, und ein Mädchen schlüpfte an mir vorbei. Es war blond und trug ein weißes Seidenkleid. Zweifellos war es das Aschenputtel, das ich durchs Kellerfenster gesehen hatte. Ängstlich sah es sich um. Es war ihm strengstens verboten, eine Männerunterkunft zu betreten.
»Sie sind … der Holländer?«, fragte sie zögernd.
»Der bin ich.«
»Schlomo schickt mich. Er konnte nicht persönlich vorbe ikommen, sagte aber, Sie bräuchten das dringend.« Sie reichte mir eine zerdrückte Schachtel russischer Zigaretten. Ich kniff hinein und spürte etwas Hartes.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
»Tatjana«, sagte sie. Grosso beugte sich vor und schnupperte neugierig an ihrer Schulter. Sie ließ ihn gewähren.
»Ist Schlomo einer deiner Kunden?«, fragte ich.
Sie kicherte. »Ja.«
Ich nickte. Besonders witzig fand ich das nicht. Das Mädchen war höchstens achtzehn.
Sie hörte nicht auf zu kichern. »Aber nicht so, wie Sie denken.«
»Wie dann?«
»Schlomo besucht mich jede Woche. Er ist ein Freund meiner Eltern aus der Zeit vor dem Krieg, als wir noch in Krakau wohnten.« Ihr Lachen erstarb. »Ich bin hier, weil die Deutschen mich angelogen haben: Ich bekäme Essen im Überfluss, schöne Kleider und müsste nicht außerhalb des Lagers arbeiten. Was sie mir nicht erzählt haben ist, dass ich hier …« Ihre Unterlippe zitterte, aber sie bewahrte die Fassung.
»Und wenn Schlomo bei dir ist …«
»Dann führen wir ein Theaterstück auf.«
»Ein was?«
»Der SS -Wachmann ist ein altes Schwein. Der klappert alle Türen ab und schaut durchs Guckloch. Schlomo kehrt der Tür stets den Rücken zu und hat die Hose runtergelassen. Wir behalten aber immer die Unterwäsche an! Ich sitze vor ihm auf dem Bett. Wenn der SS -Mann gucken kommt, warne ich ihn. Dann beginnt er zu stöhnen, so als … verstehen Sie? Ist der SS -Mann wieder weg, müssen wir wahnsinnig lachen.«
»Und mehr passiert nicht?«
»Nein, nein, Schlomo will nie irgendwas von mir, zum Glück! Nur reden. Über früher. Über meine Eltern. Über die Kirche.«
»Über die Kirche?«
»Daher kennen wir Schlomo. Kurz nach der deutschen Besetzung hat er zwölf untergetauchte Juden in den Katakomben versteckt. Er wurde verraten und mitsamt seiner Familie deportiert. Hier bin ich ihm erneut begegnet.«
»Und was tat er damals in Krakau?«
»Ja, wissen Sie das denn nicht? Schlomo war Priester der Wawel-Kathedrale.«
28
Ein befreundeter Schauspieler sah im Publikum eine Gottesanbeterin: Bei jeder falschen Bewegung oder bei jedem falschen Wort konnte das Insekt vorschnellen und ihn töten. Daran musste ich denken, als ich am Sonntagnachmittag von zwei Wachleuten in die SS -Kantine direkt vor dem Lagergelände gebracht wurde. Im Unterschied zu den roten Backsteinkasernen war dieser Bau sandsteinfarben und mit Stuck verziert. Aus dem flachen Schrägdach ragten zwei dünne, gemauerte Kamine, die aussahen
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