Das Lachen und der Tod (German Edition)
fasste sich an den Hals. Er ließ die Dose fallen und taumelte rückwärts. Er stürzte.
Einige Leute lachten. Wie ernst kann man einen Clown nehmen? Die Offiziere in der ersten Reihe indes lachten nicht. Die Dose rollte langsam auf sie zu und fiel von der Bühne. Panik brach aus. Rücksichtslos schubste Reichsführer Himmler alle zur Seite. Strauchelnd und fuchtelnd versuchte er zu fliehen, während ihm die Brille beinahe von der Nase rutschte. Eichmann folgte. Der Lagerkommandant hielt sich einen weißen Handschuh vor Mund und Nase und kletterte gefasst über die Stuhlreihen nach hinten.
Der Ernst der Lage war inzwischen bis zu den hintersten Plätzen vorgedrungen. Lautes Schreien und Kreischen. SS -Leute, ihre Frauen und Kinder – sie alle versuchten, so schnell wie möglich zum Ausgang zu fliehen. Wo war Helena? Befand sie sich in Sicherheit? Ich drehte mich zur Bühne um. Grosso lag zuckend auf dem Boden. Er hatte an dem Gas gerochen. Im nächsten Moment sah ich, wie ein SS -Mann auf mich zustürmte, der Gewehrkolben zeigte nach vorn. Ich bekam einen heftigen Schlag auf den Kopf.
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Ich wachte im Halbdunkel auf. Über mir sah ich einen Streifen Licht, schwaches Licht, Abendlicht. Ich lag auf etwas Hartem. Beton. Und Sand. Mir platzte der Schädel. Ich versuchte aufzustehen und stieß mit dem Kopf an die Decke. Ich fluchte. Da stand ein Eimer. Ich tastete nach Wasser, doch meine Hand griff ins Leere. Es war bloß ein Fäkalieneimer. Durch die rechteckige, vergitterte Öffnung über mir sah ich den Innenhof einer Baracke. Vorsichtig fuhr ich über die grünen Wände, die sich kühl und feucht anfühlten. Ich steckte in einer Zelle, die kaum mehr maß als einen Quadratmeter, und in der ich nicht stehen konnte.
Ich hörte das Echo einer zufallenden Tür. Anschließend wurde es wieder still. Ich setzte mich und untersuchte vorsichtig meinen Kopf. Nichts klebte – kein Blut. Nur eine Beule an der Schläfe. Die Bilder kehrten zurück wie ein Film, der zurückgespult wurde: Grosso, der erst zuckend, dann regungslos auf der Bühne lag. War er tot? Die Schreie, die Panik. Die geöffnete Dose, die in die erste Reihe rollte. Die Bitte um einen Dosenöffner.
Grosso. Wer war Grosso? Glaubte er tatsächlich, die Dose würde Kaviar oder etwas anderes Essbares enthalten? War er wirklich so naiv? Auf jeden Fall hatte er sich im Lagerraum schnell eine Dose Zyklon B in die Tasche gesteckt. Es schien mir fraglich, ob er sie sich später überhaupt ansah? Gift stand schließlich darauf – es sei denn, das Etikett hatte sich gelöst.Konnte er überhaupt lesen?
Es wunderte mich nicht, dass Grosso so ein bizarres Ende genommen hatte. Ich sah ihn wieder vor mir, wie er zwischen zwei Baracken seelenruhig seine Hose herunterließ, um gegen einen Hochspannungsdraht zu pinkeln. Aber an einer geöffneten Dose Giftgas zu schnuppern, das war noch einmal etwas ganz anderes. An und für sich fand ich seine Vermutung nicht unlogisch: So wie Grosso in der Dose etwas Essbares vermutete, dachten die Deportierten, aus den Duschköpfen käme Wasser.
War Grosso überhaupt Jude?
Zitternd hatte er vor dem Publikum gestanden. Wer war dieser Mann? Hatte auch er Frau und Kinder verloren, wie ich anfangs vermutete? Vielleicht war die Clownsrolle bloß eine Tarnung gewesen, hinter der er sich versteckte, um sich im passenden Moment rächen zu können. Aber warum hatte er die Dose dann nicht aufgerissen und die Zyklon-B-Körner über die SS -Henker gestreut? Wollte er keine Kinder töten? Oder sollten die Deutschen tatsächlich glauben, es handele sich um eine aus dem Ruder gelaufene Clownnummer, damit niemand für seine Tat bestraft wurde? Hatte er mich und die Musiker vor Repressalien schützen wollen?
Helena.
War sie unverletzt? Bestimmt, so groß dürfte das Loch in der Dose nicht gewesen sein. Was würden sie jetzt tun? Ich saß hier fest. Sahen sie in mir einen Mitschuldigen? Welche Folgen hatte das für Helena? Musste sie wieder zurück in die Baracken? Ich war nicht böse auf Grosso. Seine Aktion konnte unmöglich geplant, musste Zufall gewesen sein, und sich über den Zufall aufregen, war ungefähr genauso sinnvoll, als würde man sich über das miese Wetter, über Kälte und strömenden Regen aufregen.
Saß ich in einer Todeszelle? Ließen sie mich hier ohne Wasser und Brot elendiglich verrecken? Davon hatte ich bereits gehört – das besagte eines der Gerüchte über Block 11. Dort befand ich mich nämlich zweifellos.
Es wurde
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