Das Laecheln der Chimaere
Telefonnummer gehörte zu einer Moskauer Wohnung in der Mytnaja-Straße. Drei Mieter waren dort registriert. Das bedeutete, dass es sich sehr wahrscheinlich um eine Kommunalwohnung handelte, und wenn dort wirklich ein Vitas wohnte, so hatte er vermutlich nur ein Zimmer gemietet.
Ohne lange zu überlegen, machte Kolossow sich auf den Weg in die Mytnaja-Straße. Heute war offenbar der Tag der Reisen, Gespräche und des Meinungsaustausches. Unterwegs dachte er, würde man die Entfernungen messen, die er im Laufe dieses Tages zurücklegte, käme vermutlich eine Strecke von Moskau bis Jaroslawl heraus.
Es dämmerte bereits. Frost herrschte nicht mehr, aber in der Stadt spürte man die Kälte ohnehin nicht so stark wie draußen auf den verschneiten Feldern. Nikita fuhr langsam die menschenleere, dunkle Straße entlang und hielt nach den Hausnummern Ausschau. Er kam an der schiefen Mauer eines alten Stadions vorbei, überquerte eine Kreuzung. Linker Hand ragte das schwarze Massiv eines polygraphischen Kombinats empor. Dahinter begann ein Wohnblock: gedrungene fünfstöckige Häuser, noch vor dem Krieg von einem kubistischen Architekten gebaut. Früher, Mitte der dreißiger Jahre, waren dort vermutlich die vorbildlichen Wohngenossenschaften untergebracht, wie sie schon Bulgakow beschrieb.
Jetzt hatten sie sich in ein heruntergekommenes Schattenreich von noch nicht aufgelösten Kommunalwohnungen verwandelt: Höfe wie Brunnen, breit und hallend wie Exerzierplätze, Treppenfluchten und labyrinthartige Wohnungen für jeweils ein gutes Dutzend Familien. An jeder Eingangstür hing ein ganzes Nest von schwarzen Klingelknöpfen.
Die Wohnung 7 im Haus Nummer 14 befand sich im ersten Stock. Kolossow stieg die Treppe hinauf. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass in diesem Haus ein Mann wohnte, der ständiger Gast eines solch vornehmen Lokals wie des »Roten Mohn« war.
An der Tür zur Wohnung 7 gab es nur drei Klingeln. Kolossow drückte aufs Geratewohl auf eine davon. Er musste etwa fünf Minuten warten, bis ihm geöffnet wurde. Eine Frau im Hauskittel stand in der Tür. Hinter ihr guckte ein elfjähriges Mädchen in einem Jeansanzug hervor. Kolossow fragte: »Sagen Sie, ist Vitas zu Hause?« Die Frau überlegte einen Augenblick und antwortete: »Ja, ich glaube, heute ist er da. Kommen Sie herein, es ist die letzte Tür im Flur.«
Der Flur war lang wie ein Darm. Die Türen, die auf ihn hinausgingen, sahen sehr unterschiedlich aus. Die erste war mit neuem, solidem Kunstleder bespannt, die zweite mit altem, an manchen Stellen geplatztem Leder. Die dritte – die letzte – war schäbig und zerkratzt, dafür aber aus Eisen. Nikita wollte gerade höflich anklopfen, da ertönten plötzlich laute Stimmen.
»Ich sage dir doch, daraus wird nichts! Niemals! Solange ich lebe, werde ich dir das nicht erlauben!«
»Du kannst mir gar nichts verbieten.«
»Aber ich bitte dich darum!«
Kolossow stand unentschlossen still. Offenbar war hinter der Tür gerade eine Beziehungsdiskussion im Gange. Die erste Stimme war eine wohlklingende Männerstimme mit baltischem Akzent. Die zweite, eine Frauenstimme, hatte auch einen leichten Akzent, aber weniger deutlich hörbar. Der Tonfall des Mannes war zuerst zornig, kategorisch-befehlend. Aber den zweiten Satz sprach er schon leiser, fast flehentlich. Es folgte eine lange Pause. Dann sagte die weibliche Stimme: »Nein, nein, bitte mich nicht, ich kann nicht«, das aber schon so leise, dass Kolossow draußen vor der Tür nur dank seinem feinen, geübten Ohr diese Weigerung noch verstand. Dann folgte wieder eine lange Pause, die beiden Streithähne schwiegen. Schließlich sagte die Frau immer noch leise und sehr traurig: »Du solltest jetzt besser gehen.«
Da fasste Nikita sich ein Herz und klopfte laut an die Eisentür. Sogleich wurde sie weit aufgerissen, als hätte man ihn schon erwartet.
»Da ist der Mistkerl ja! Ich hab dir gesagt, ich bring ihn um, wenn ich ihn hier noch ein einziges Mal sehe!«
Hätte Nikita nicht blitzschnell reagiert – ihn hätte ein so vernichtender K.O.-Schlag getroffen, dass er daran noch lange Freude gehabt hätte. Die Frau, die weiter hinten im Zimmer stand, schrie auf. Der Angreifer . . . war der junge Mann vom Videoband. Das begriff Nikita allerdings erst später, nachdem er sich von dem unerwarteten Angriff etwas erholt hatte. Der Unbekannte war ziemlich groß und sah wie ein Ausländer aus. Wie ein Deutscher, dachte Kolossow unwillkürlich – blond und
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