Das Laecheln der Fortuna - Director s Cut
Raymond tragen müssen. Das machte es fast aussichtslos. Aber er würde es trotzdem versuchen. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Und es blieb ihm keine Woche Zeit mehr. Nicht einmal fünf Tage. Er hatte sich verschätzt. Raymonds Reserven waren beinah aufgezehrt.
„Raymond, du musst etwas für mich tun.“
„Oh, was jetzt schon wieder?“
„Nicht jetzt. Morgen früh.“
„Was?“
Robin erklärte es ihm.
Raymond blinzelte verständnislos. „Soll es ein Streich werden?“
„Nein. Eine List.“
„Oh. Etwas Verbotenes, ja?“
„Richtig.“
„Gott wird zornig auf mich sein.“
„Nein, das nehm ich auf meine Kappe.“
„Dann wird er mit dir zornig sein.“
„Ich denke, er wird ein Auge zudrücken. Wirst du’s tun?“
Raymond nickte ohne zu zögern. Er lächelte sogar ein bisschen. Ein kleines, verschwörerisches Totenschädelgrinsen. Robin schluckte mühsam und unterdrückte ein Schaudern. Und ein Verdacht, den er seit ein paar Tagen hegte, wurde Gewissheit: Ugolino hatte nicht gewartet, bis seine Söhne verhungerten. Das konnte kein Vater bis zum Ende tatenlos mit ansehen. Vielleicht hatte er ihnen Geschichten erzählt, bis sie einschliefen, und ihnen dann Mund und Nase zugehalten. Es war sicher schnell gegangen. Es war ja keine helle Flamme mehr, die er löschen musste. Nur noch ein schwaches Flackern.
Er nahm Raymonds mageres Gesicht zwischen seine mageren Hände und küsste ihm die Stirn. „Ich werde also jetzt die Fackel löschen.“
„Und dann kommst du her und hältst mich fest?“, fragte Raymond flehentlich. Er hatte eine Todesangst vor den Ratten.
„Natürlich.“
Robin nahm die Fackel von der Wand, fegte mit dem Fuß das Stroh beiseite und drückte die Flamme in den feuchten Lehmboden. Sie verlöschte zischend. Er nahm sie mit, ging im Dunkeln zurück zu Raymond und kniete sich vor ihn. Er ertastete ihn und hob ihn hoch.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“
„Ja. Die von dem blinden König von Böhmen, der in die Schlacht ritt.“
Robin war verblüfft. „Woher weißt du davon? Das ist eine wahre Geschichte.“
„Guy Dunbar hat uns von ihm erzählt. Stimmt es, dass er der Großvater der Königin war?“
„Ja. Und ein sehr mutiger, ehrenhafter Mann. Das ist eine von den traurigen, wahren Geschichten, weißt du. Die Böhmen zogen zusammen mit den Franzosen in die Schlacht gegen König Edward und den Schwarzen Prinzen. Bei einer kleinen Stadt in Frankreich, Crécy. Und der alte König von Böhmen wollte um jeden Preis mit der Vorhut reiten, obwohl er blind war. Also banden zwei seiner Ritter ihre Pferde links und rechts an seinem fest, damit er ihnen nicht verloren ging, und so zogen sie ins Feld. Sie fielen alle drei.“
„England hat die Schlacht gewonnen?“
„Das kannst du laut sagen.“
„Und den Krieg?“
„Nein, den nicht. Es war derselbe Krieg wie jetzt. Aber jetzt sind die Enkel der englischen und böhmischen Könige von damals miteinander verheiratet. Das ist vielleicht ein gutes Zeichen.“
„Warum wollte der blinde König unbedingt in der Schlacht kämpfen?“
„Um seine Ritterehre zu wahren. Er wollte sich vor seiner Blindheit nicht geschlagen geben.“
„Aber das war dumm.“
„Ja.“ Robin fuhr ihm lächelnd über den Kopf. „Nichts macht einen so oft zum Narren wie die eigene kostbare Ehre.“
„Das versteh ich nicht.“
„Nein. Vielleicht irgendwann einmal.“
Raymond legte die Arme um seinen Hals. „Ich weiß nicht. Ich glaub, ich muss bald sterben, Vater“, vertraute er ihm wispernd an.
Robin hielt ihn fest und versuchte, ihm so viel Wärme wie möglich zu geben. Ihr Verlies schien ihm mit jeder Nacht feuchter und kälter zu werden.
„Noch leben wir, Raymond. Und wo Leben ist, da ist auch immer noch Hoffnung.“
„Aber wenn ich sterben muss, werde ich dann meine Mutter treffen? Werd ich dahin gehen, wo sie ist?“
„Ja.“
„Woran erkenne ich sie?“
„Du wirst sie erkennen, sei unbesorgt. Sie sieht aus wie Edward.“
„Oh.“ Er schien beruhigt. „Das ist gut.“
Er rollte sich in Robins Armen zusammen und schlief fast sofort ein.
Robin hörte, wie die Tür sich öffnete. Mit einem gewaltigen Schwung; die alten Scharniere protestierten quietschend. Es wurde hell.
„Wo ist Rodney?“, hörte er Raymond verwundert fragen.
„Der hat dienstfrei“, sagte eine fremde, nicht unfreundliche Stimme. „Lieber Himmel, du bist aber eine dürre, kleine Kröte, was?“
„Ihr lasst uns verhungern“,
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