Das Lächeln der toten Augen
Halbermann.
Trevisan nickte und erhob sich. Halbermanns harte und verschlossene Gesichtszüge verrieten, dass er von dem Mann keine Antworten auf seine Fragen bekommen würde.
Auf dem gepflasterten Weg zum Tor hinunter kam ihm eine Frau entgegen. Nur kurz streiften sich ihre Blicke. Sie mochte wohl nahe an die sechzig sein, trug ein einfaches Kostüm und hatte ihre grauen Haare hochgesteckt. Mit einem kurzen »Guten Morgen« ging sie an Trevisan vorüber. Als Trevisan vor seinem Wagen stand, blickte er sich noch einmal um. Er sah, wie die Frau im Haus verschwand.
*
Als Trevisan an diesem Sonntag das Büro verließ, hatte er bereits den Abschlussbericht geschrieben. Als Motiv trug er in das entsprechende Freifeld des Formulars auf der ersten Seite familiäre Probleme zwischen Vater und Sohn/wahrscheinlich Liebeskummer ein. Noch einmal las er das zweiseitige Dokument, das die Registriernummer 253/01-Kl-Tr. erhalten hatte. Eigentlich war ihm klar, dass der Staatsanwalt nicht mehr als die erste Seite lesen würde, auf der die Personaldaten des Verstorbenen und in Kurzform die grundlegenden Feststellungen der Polizei festgehalten worden waren. Der Tod eines Menschen war verwaltungstechnisch auf drei Fragen reduziert. Die erste richtete sich nach den persönlichen Daten des Toten, die zweite Frage beschäftigte sich mit dem Problem, ob ein Fremdverschulden tatsächlich ausgeschlossen werden konnte und die letzte setzte sich mit dem Motiv des Selbstmörders auseinander.
Trevisan erinnerte sich noch gut an die Zeit, als aus einem Selbstmord noch eine Akte wurde, die neben einem Spurensicherungsbericht auch einen maschinengeschriebenen Abschlussbericht von meist vier bis fünf Seiten enthielt, in dem alle festgestellten Umstände ausgiebig dargestellt wurden. Doch seit betriebswirtschaftliche Grundsätze bis in die letzten Reihen der Polizei Einzug gehalten hatten, sprachen die Vorgesetzten nur noch von Optimierung und Abbau der Bürokratie. Sie hatten sogar recht damit. Mit der Zeitersparnis konnten heutzutage in der gleichen Zeit viermal so viele Selbstmorde abgearbeitet werden wie früher.
Trevisan blickte auf seine Uhr. Es war kurz nach Mittag und er verspürte ein deutliches Hungergefühl. Als er in seinen Wagen stieg, beschloss er, in einem Gasthaus essen zu gehen. Paula würde erst gegen zwei Uhr nach Hause kommen.
Es war ein sonniger und schöner Tag. Vielleicht würden sie den heutigen Nachmittag zusammen am Sander Badesee verbringen.
4
Trevisan hatte sich im Restaurant Fisch bestellt, doch trotz seines Hungers nur wenig davon angerührt. Anschließend war er nach Hause gefahren. Noch war Paula nicht eingetroffen.
Draußen war es warm. Das Thermometer zeigte 26 Grad Celsius. Trevisan stellte seinen Liegestuhl auf die Terrasse und legte sich ein Buch zurecht. Als er ein paar Seiten gelesen hatte, schlief er ein.
Schritte im Haus weckten ihn. Paula war zurück. Er hatte Durst und erhob sich. Als er in die Küche kam, stand Paula vor dem Kühlschrank.
»Hallo, Paps, wie geht es dir? Du siehst müde aus«, sagte sie im Vorübergehen.
»Mir geht es gut und dir? Wie war das Wochenende?«
»Toll!«, rief sie ihm zu, ehe sie im Badezimmer verschwand.
Trevisan schenkte sich ein Mineralwasser ein und ging hinaus auf den Flur. Sein Blick fiel auf die rote Sporttasche, die vor der Garderobe lag. Dann erschien Paula und verstaute ihr Badetuch darin.
»Willst du noch einmal weg?«, fragte Trevisan.
»Ich gehe mit Anja und ein paar anderen schwimmen. Aber keine Angst, du brauchst mich nicht zu fahren, ich werde abgeholt«, sagte sie, ehe sie auf der Treppe nach oben verschwand.
Trevisan blickte ihr nach. Die Betonung auf »abgeholt« gefiel ihm überhaupt nicht. »Aber ich dachte, wir könnten heute zusammen etwas unternehmen?« rief er ihr nach. Eine Antwort blieb aus.
Er überlegte, ob er sie fragen sollte, wo sie den gestrigen Mittag verbracht hatte, doch er verwarf den Gedanken. Stattdessen wiederholte er seine Frage. »Unternehmen wir was, wir beide?«
Paula kam die Treppe herab. Trevisan blickte sie mit großen Augen an. Hatte sie Lippenstift aufgetragen? Paula war groß geworden. Sie hatte viel von ihrer Mutter. Die schlanke Figur, die blonden Haare – jetzt rötlich eingefärbt – und die kleine, süße Stupsnase. Doch noch etwas war genauso wie bei Grit: ihr Gesichtsausdruck, wenn sie etwas verheimlichen wollte.
»Paps, heute geht es wirklich nicht. Ein anderes Mal vielleicht«, antwortete Paula
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