Das Lächeln der toten Augen
Halbermann hatte sich das Leben genommen. Er würde nie mehr auf der durchgesessenen Couch neben der Stereoanlage sitzen und seine alten Platten auflegen, auf die er so stolz gewesen war.
Die Jungs schwiegen sich an. Um Luisas Augen lag ein roter Schatten. Wie die Corona einer Sonnenfinsternis. Sie blickten betreten zu Boden. Eine bedrückende Stille herrschte im Raum.
Mike Landers hielt einen Brief in der Hand. Sven Halbermann hatte mehr hinterlassen als die wenigen Zeilen auf dem weißen Papier in seinem Zimmer in Horumersiel. Was Mike in den Händen hielt, war eine einzige Anklageschrift. Das Vermächtnis eines Toten. Nun wussten sie, durch welche Hölle Sven Halbermann in den letzten acht Monaten gegangen war. Welche Schuldgefühle ihn gequält hatten. Am Ende hatte er erkannt, dass nicht er der Schuldige war, sondern ein anderer die Verantwortung für Marias Tod trug. Und eben diese Schuld sollten sie jetzt für ihn einfordern.
Sven Halbermann hatte sich in Maria Souza da Marques verliebt. Über ein Jahr hatte sie als Au-pair-Mädchen im Haushalt der Halbermanns gelebt. Dabei war es dann passiert. Sie hatte Svens Gefühle durcheinandergebracht. Doch Svens Vater wollte nichts davon wissen. Er mischte sich ein, beendete die Beziehung. Er schickte sie einfach zurück. Zurück in die Armut und in die menschenfeindliche Welt der Slums um Rio. Zumindest hatte Sven das geglaubt. Selbst nachdem sie fortgebracht worden war, hatte er versucht, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Er hatte Briefe geschrieben. Sie blieben unbeantwortet. Er hatte das Institut angerufen, das die Vermittlung arrangiert hatte, doch dort hielt man ihn hin. Er hatte versucht, sie über die deutsche Botschaft ausfindig zu machen. Niemand konnte helfen. Sie blieb verschollen, untergetaucht in einem Moloch aus Armut, Menschenverachtung und Anonymität. Sie war verloren. Verloren für immer. So hatte er geglaubt. Schließlich hatte er das Bild gefunden. Das Bild und die Halskette mit dem Amulett, das er ihr geschenkt hatte. Das Bild zeigte ihr Gesicht. Zeigte ihre Augen. Die Augen lächelten. Sie lächelten in die Ewigkeit. Anfänglich hatte er noch geglaubt, sie hätte es seinetwegen getan. Nun wusste er, wer dahintersteckte. Simon Halbermann trug die Schuld an ihrem Tod.
Mike Landers blickte Luisa mitleidvoll an. Seine Tränen waren versiegt. Seine Augen waren leer geweint.
Der Brief enthielt mehr als nur den schrecklichen Verdacht, mehr als die bloße Anklage. Er enthielt eine klar formulierte Forderung.
Svens Vater sollte bezahlen. Er sollte die Rechnung begleichen. Er sollte die Angst empfinden, die auch Sven in seinen letzten Monaten empfunden hatte. Doch die Angst vor dem Tod war für den Vater nicht genug. Darüber würde der nur lachen. Simon Halbermann, der Ehrgeizige, der Reiche, der Selbstherrliche. Der mit Selbstverständlichkeit Macht über andere ausübte, es genoss, andere zu beherrschen. Er selbst sollte Angst davor empfinden, dass er alles verlieren könnte, was er aufgebaut hatte.
Sven Halbermann war Maria im festen Glauben gefolgt, in der anderen Welt wieder mit ihr vereint zu sein. Und sein Tod sollte etwas in Gang setzen, was er zu Lebzeiten nie erreicht hätte. Das war Svens Halbermanns Vermächtnis. Und das Bild und die Kette waren die Werkzeuge.
Hatte Sven wirklich recht, war Maria Souza da Marques tot? Gestorben, weil Svens Vater es wollte?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Wenngleich Mikes Idee abenteuerlich erschien.
»Die ist doch nur in Trance.« Jochen Eickelmann brach den Bann der Stille und legte das Bild zurück auf den kleinen Tisch. »Ich glaube nicht, dass sie tot ist. Wer weiß, vielleicht meditiert sie. An was glauben die Brasilianer, an Voodoo?«
»Wir sollten zur Polizei gehen«, mischte sich Luisa ein.
Mike Landers schüttelte den Kopf. »Die Polizei wird nichts unternehmen. Was beweisen das Foto und die Kette schon? Ich kenne Sven. Ich weiß, dass er recht hat.«
»Aber wir haben immer noch den Brief.«
»Der Brief … der Brief enthält keine Beweise«, entgegnete Tommy. »Sie werden glauben, er spinnt und ist seiner Angebeten in den Tod gefolgt.«
Sie wussten, was Tommy meinte. Kein normaler Mensch brachte sich um. Nur Irre taten das. Kranke, die mit sich selbst nicht klarkamen. Sven war nicht verrückt gewesen. Er hatte gewusst, was er tat. Und gewusst, warum er es tat.
»Wenn er das Geld übergibt, dann ist alles klar. Dann gibt er zu, dass er Maria ermordet hat«, sagte Mike nach
Weitere Kostenlose Bücher