Das Lächeln der toten Augen
Aber ich warne dich, gehe nicht zu weit. Paula ist noch zu jung … Du weißt schon, was ich meine.« Trevisan erschrak. Hatte er es wirklich gesagt …?
Der Junge streckte ihm seine Hand entgegen. »Mein Wort drauf.«
Trevisan ergriff die Hand und war überrascht über den festen Händedruck des jungen Mannes.
»Darf ich Paula morgen früh abholen?«
Trevisan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht … du wirst sie selbst fragen müssen.«
Der Junge lächelte. »Vielleicht sind Sie gar nicht so borniert.«
Paula lag auf ihrem Bett und hörte Musik. Sie hatte wieder ihren Kopfhörer aufgesetzt. Trevisan öffnete leise die Tür. Er setzte sich auf den Bettrand. Paula wandte sich um und nahm den Kopfhörer ab.
Zärtlich strich er ihr über den Kopf. »Hattest du einen schönen Tag?«
Sie legte den Kopfhörer zur Seite und richtete sich auf. »Ich war baden und als es zu regnen begann, bin ich mit zu Anja gegangen.«
»Hast du morgen schon etwas vor?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Es soll morgen kühl bleiben und regnen«, sagte Trevisan.
»Dann wird das mit dem Badengehen nichts?«
»Falls du bummeln gehen willst, dann habe ich nichts dagegen.«
Paula schaute Trevisan überrascht an.
»Ich meine, wenn dich Nikolas abholt«, fügte Trevisan hinzu.
»Was soll das jetzt?«, fragte sie mit aufkommender Wut in der Stimme. »Ich habe ihn …«
Trevisan richtete sich auf. »Ich habe einfach falsch reagiert«, unterbrach er sie. »Mir ist klar geworden, dass du langsam erwachsen wirst. Und in Nikolas habe ich mich wohl gründlich geirrt. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken. Manchmal tut man Dinge, die falsch sind, einfach nur aus dem Glauben heraus, es gut mit jemandem zu meinen. Verstehst du das?«
Er nahm Paula in den Arm. Sie wehrte sich nicht dagegen.
29
Zum ersten Mal nach langer Zeit hatte Trevisan wieder tief und fest geschlafen. Als er gegen acht Uhr aufgestanden war und geduscht hatte, stand das Frühstück bereits auf dem Tisch. Paula hatte Kaffee aufgebrüht, Toast gebuttert und Eier für ihn gekocht. Sie saß am Frühstückstisch im geräumigen Wohn- und Esszimmer und wartete. Sogar die Zeitung hatte sie hereingeholt und neben seinem Platz auf den Tisch gelegt.
»Du hast dir ganz schön Mühe gegeben«, witzelte Trevisan.
Paula lächelte und goss ihm Kaffee ein. »Es muss viel Kraft kosten, wenn man über seinen eigenen Schatten springt.«
Trevisan tat, als habe er ihre Bemerkung überhört, und griff zur Zeitung. Er überflog die Seiten. Im Lokalteil stieß er auf einen Artikel, der sich mit dem Flugzeugabsturz von Simon Halbermann befasste. Der Journalist schrieb, welchen schmerzlichen Verlust der Tod des Industriellen für die Region und speziell für Wilhelmshaven bedeutete. Die Zeilen klangen wie der Nachruf auf einen guten und liebevollen Menschen. Trevisan schüttelte den Kopf. Wenn der Reporter wüsste, welche Grausamkeiten sich hinter der Fassade des Geschäftsmannes verborgen hielten … Welches Leben Halbermann geführt hatte … Aber wie sollte er, die Informationen waren nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Die Öffentlichkeitsfahndung hatte sich erübrigt. Simon Halbermann ruhte auf dem kalten Grund der Nordsee. Trevisan blätterte angewidert um und überflog die weiteren Artikel.
An der Anzahl der Seiten und der Belanglosigkeit mancher Meldungen war unschwer zu bemerken, dass der Sommer Einzug gehalten hatte. Der Kaninchenzüchterverein in Accum feierte vierzigjähriges Bestehen, der Segelclub Horum veranstaltete am Wochenende ein kleines Sommernachtsfest und die DLRG in Hohenstiefersiel bemängelte das sorglose Verhalten so mancher Urlauber, die ohne Führung hinaus ins Watt wanderten und sich dadurch unnötig in Gefahr brachten.
Auch in der weiten Welt schien sich der Lauf des Lebens verlangsamt zu haben. Wären nicht da und dort die kleinen Affären der Stars und Sternchen, so hätten die Journalisten wohl gar nichts mehr zu berichten gehabt. In Bremerhaven waren bei einem schweren Verkehrsunfall drei Menschen ums Leben gekommen und in Hamburg war ein Base Jumper abgestürzt. Trevisan stutzte. Die deutsche Sprache wurde. immer mehr von Anglizismen durchsetzt. Er las den Artikel, um zu erfahren, was dieser Ausdruck bedeutete. Hinterher schüttelte er nur den Kopf. Wieder einmal wurde ihm klar, dass diese Gesellschaft immer mehr ins Abseits trudelte. Nun stürzten sich schon Halbwüchsige an Fallschirmen von den Dächern der Hochhäuser, um wenigstens
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