Das Lächeln der Toten • Ein Merrily-Watkins-Mystery
leider zugeben, dass ich mir den Schal um den Kopf gebunden hab, damit er mich nicht erkennt, dann habe ich mein ganzes Kleingeld in seinen Hut getan und bin schnell weitergegangen. Später hat mir jemand erzählt, dass Eric Bell durchs ganze Land gefolgt ist und immer in der Nähe der Bühnen Musik gemacht hat, auf denen sie aufgetreten ist.»
«Jetzt ist er tot.»
«Ja. Er hat angefangen zu trinken und ist unberechenbar geworden, und eines Tages hat sich der arme Teufel von einem Hochhaus in London gestürzt.»
«Wie Seress.» Lol wurde langsam etwas mulmig zumute.
«Was?»
«Rezsö Seress – ‹Gloomy Sunday›? Es gibt doch diesen Song über Selbstmord, der Leute dazu gebracht haben soll, sich umzubringen. Zumindest ist das so eine moderne Legende. Den Song hat ein Ungar geschrieben, Rezsö Seress. Er hat sich auch von einem Hochhaus gestürzt. Der ungarische Selbstmordsong. Wird manchmal von Künstlern gecovert, wenn sie ganz wagemutig sind.»
«Auch von Bell?»
«Sehr originalgetreu, bis hin zum Knistern der alten Schallplatte.»
«Das ist dermaßen typisch für diese Frau», sagte Moira. «Ich kann mir richtig vorstellen, wie Eric dasaß und diesen Song immer wieder gehört und ein Glas nach dem andern getrunken hat. Ich hätte große Lust, ihr mal so richtig eine reinzuhauen.»
«Siehst du sie noch manchmal?»
«Seit Jahren nicht. Sie lässt sich ja kaum noch blicken – hat’s nicht nötig, wird ja ständig von irgendwelchen Kids wiederentdeckt. Bleibst du heute Nacht hier?»
«Ich glaub, ich will zu Hause schlafen. Ist nur eine gute Stunde bis dahin.»
«Zuhause», sagte Moira. «Das ist ein schönes Wort, oder?»
Es schien unwahrscheinlich, dass er schon zurück war, aber gegen Mitternacht ging Merrily die Auffahrt des Pfarrhauses hinunter, um nachzusehen, ob bei Lol Licht war.
Es war dunkel. In der ganzen Church Street war kein Licht zu sehen. Es war eine warme, mondlose Nacht. Sie zündete sich eine Zigarette an und sah zu Janes Fenster hinauf, das ebenfalls dunkel war. Gut. Das Kind hatte für einen Abend genug Nachforschungen angestellt.
Sie war ja gar kein Kind mehr. Sie war klug und humorvoll und einfühlsam, und es wurde immer angenehmer, sie um sich zu haben. Und in achtzehn Monaten würde sie mit ziemlicher Sicherheit von zu Hause ausziehen.
Zuhause. Merrily wandte dem Pfarrhaus den Rücken zu. Es war für sie nie ein richtiges Zuhause gewesen. Sieben Zimmer – wie sollte sie in diesem Kasten allein leben, verdammt nochmal? Vielleicht gab es ja in einer der anderen fünf Gemeinden, die sie übernehmen sollte, ein kleineres Pfarrhaus. Oder vielleicht war es an der Zeit weiterzuziehen, wenn Jane das Haus verließ, in eine andere Diözese. Vielleicht deutete schon alles darauf hin. So wie alles darauf hindeutete, dass Siân Callaghan-Clarke bald bischöfliches Violett tragen würde.
Die Vorstellung ärgerte Merrily, und sie dachte: Ich mach das, zum Teufel – Mary, das verdammte Medium.
«Weißt du, wie man als Psychometrikerin am überzeugendsten ist?», hatte Jane gesagt, als sie zu Bett gegangen war. «Geh einfach durch die Räume, ohne was zu sagen. Behaupte nicht, irgendwelche Visionen zu haben oder so. Sag einfach überhaupt nichts.»
«Was soll das denn bringen?»
«Die meisten falschen Medien reden eine Menge Müll, und wenn man zu irgendeiner Kleinigkeit was sagt, springen sie sofort drauf an. Wenn du nichts sagst, denkt Bell entweder, du willst nicht verraten, was du wahrgenommen hast, bis du dir ganz sicher bist, oder sie denkt, du weißt, dass sie sich vor Angst in die Hose machen würde.»
Klang logisch. Merrily drückte ihre Zigarette aus und ging wieder ins Haus.
Lol fuhr über die Brücke nach Wales, langsam an der Grenze entlang, durch das vom Mond beschienene Wye-Tal und wieder nach England hinein, Richtung …
Zuhause, ja.
Es wäre etwas übertrieben zu sagen, dass Moira in ihm lesen konnte wie in einem Buch, aber sie sah die großen Worte in seinem Leben, als stünden sie in Neonschrift auf seiner Stirn.
Zuhause … das war eins dieser Worte. Als er das letzte Mal in Ledwardine gelebt hatte, war es für ihn eine Zuflucht gewesen, der Ort, an dem er sich versteckt, aber nicht unbedingt gelebt hatte. Und jetzt … jetzt hatte er tatsächlich das Gefühl, der Richtige zu sein für das Haus von Lucy Devenish.
Und Merrily … das würde sich schon ergeben. Das musste es einfach.
Denn sie war sein eigentliches Zuhause.
Er ließ den Astra
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