Das Lächeln der Toten • Ein Merrily-Watkins-Mystery
Schmerz.
Vielleicht nur eine Eule auf dem Schlossgelände. Und dann, einen Moment später, zwei verschiedene Eulenarten hintereinander: das atemlose Flöten des Waldkauzes, das von einem flüchtigen Schrei abgelöst wurde – Schleiereule. Das war alles, das war –
Als Merrily in ihren Taschen nach den Zigaretten und dem Zippo suchte, erklang das Geräusch erneut und schwoll zu etwas an, das überhaupt nicht mehr nach Eule klang, sondern definitiv nach einer Frau.
Dann ein schriller Ruf.
« NIMM MICH !»
Merrily erstarrte.
« NIMM MICH , LEHR MICH … ÜBERROLL MICH , VERSCHLING MICH !»
Die Worte schienen die Mauer emporzukriechen.
Merrily erkannte die Worte natürlich. Sie stammten aus
Nachtschatten
. Der Song war zwanzig Jahre alt.
Und vom Fuß des Henkersturms – dieselbe Stimme, nur anders. Weich und rau, ätherisch.
«Der kleine Willie Winkie läuft durch die Stadt
Rauf, runter, rauf, runter, in seinem Schlafanzug
Klopft an die –»
Ein unterdrücktes Schluchzen. In der Ferne hörte Merrily ein Auto hupen, das Grollen eines Flugzeuges am Himmel. Und dann war ein Husten zu hören und wieder die Stimme, heiser und erdig und herb.
«Du liegst da wie faules Fleisch …»
Und dann, höher, schwächer und zarter und sich immer weiter emporschraubend:
«… Ich werde fliegen wie Marion.»
Mumford
Die Tür war mit einer Kette gesichert, durch den Spalt fiel Licht auf den Treppenabsatz, und sie zischte ihn an.
«Du kapierstes wohl nie, was? Bist hier nicht erwünscht, warste nie. Wir ham uns nix zu sagen. Schon gar nicht nachts um halb eins.»
Halb eins? Wirklich?
Okay, vielleicht war es etwas spät für einen Besuch, auch wenn es die nächsten Verwandten waren. Aber er hatte gesehen, dass noch Licht war, und vermutete, dass sie sowieso die halbe Nacht auf waren und dann bis nachmittags im Bett lagen.
«Ich will ja nur ein bisschen reden, Angela», sagte Mumford ruhig. «Kostet dich nicht mehr als ’ne halbe Stunde. Es gibt da nur ein paar Dinge, die ich klären muss.»
«Verpiss dich», sagte Ange durch ihre Wachhundzähne, «und jetzt lass uns in Ruhe. Ich will dich Fettwanst nie wieder sehen, klar?»
Mumford nickte. Am Anfang war er ganz höflich gewesen – hatte ihr gesagt, er halte es für seine Pflicht, sie darüber zu informieren, dass ihre Mutter am Dienstag beerdigt werde – und hatte sich kommentarlos die vorhersehbare Reaktion angehört. Er hatte sich noch nicht einmal das Gesicht abgewischt, obwohl das danach nötig gewesen wäre. Unerschütterlich.
Der Joint war noch an der Wohnungstür zu riechen, und Mumford wusste, dass Ange an die Tür gekommen war, weil Mathiesson damit beschäftigt war, alles die Toilette runterzuspülen, falls Mumford nicht allein gekommen war. Wahrscheinlich waren es mehr als nur ein paar Gramm Schnee, aber die Jungs hatten diese Wohnung verschont, als sie ihre Razzia in der Gegend gemacht hatten – vielleicht dachten sie, diese Familie hätte genug gelitten, zumal Mathiesson sowieso nur ein Kleinkrimineller war. Bliss konnte ja gelegentlich sehr umsichtig sein.
«Tja», sagte Mumford, als hätte sie seine Gefühle verletzt, «wenn du’s so siehst, gibt’s wohl nichts mehr zu sagen.»
Er zog sich zurück, während er sprach, den Blick ständig auf die gespannte Kette gerichtet, und als er sah, wie sie nachgab, als Ange ihm die Tür vor der Nase zuknallen wollte, rammte er seine Schulter mit der ganzen Kraft seiner fast hundert Kilo dagegen.
Das Holz splitterte, Ange schrie, und die Tür flog auf. Mumford griff nach seiner Schwester, bemüht, dass sie nicht hinfiel, schließlich war sie schwanger.
Er hielt ihre Arme fest an ihre Seiten gedrückt und bugsierte sie rückwärts ins Wohnzimmer. Sie gönnte ihm nicht die Genugtuung, noch einmal zu schreien, aber er lockerte seinen Griff nicht, denn sobald er das täte, hätte sie einen seiner Finger zwischen den Zähnen, das war ihm klar.
Sie war die Tochter ihres Vaters.
Mumford sah sie eindringlich an.
«Ich werd das alles bezahlen, klar? Ich lass ’n Hunderter auf dem Tisch, wenn ich gehe. Und du kannst diesem Dreckskerl sagen, er braucht nicht alles im Klo runterzuspülen, weil es mich nämlich nicht im Geringsten interessiert, was er sich heut Nacht durch die Nase reinzieht.»
Anges Augen waren schwarz, vor Hass, schätzte Mumford. Er starrte sie weiter an, unerschütterlich.
«Ist das klar?» Er registrierte, wie sie im Mund Speichel sammelte und schüttelte sie ein bisschen.
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