Das Lächeln des Leguans
Weg nach Ftan begegnet und das er vergeblich
zu besiegen versucht. Ich weiß nicht, ob es beabsichtig ist, aber die Augen des Ungeheuers erinnern an die des Schweinehundes …
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»Eine Nichtbeachtung der Tauchtabellen bzw. der Auftauchgeschwindigkeit begünstigt die unkontrollierbare Entstehung von Stickstoffblasen
im Körper. Es kommt zum sogenannten Dekompressionsunfall.«
Vom Schweinehund haben wir nichts mehr gehört. Der brutale Kerl scheint vergessen zu haben, dass Luc überhaupt existiert.
Wir machen um das gelbe Haus einen großen, abergläubischen Bogen und wagen nicht einmal, den Namen seines widerwärtigen Bewohners
auszusprechen, aus Angst, der bloße Klang des Wortes könnte etwas Unerfreuliches auslösen.
Es tut Luc gut, unter normalen Menschen zu leben. Sein magerer Körper ist durch ein paar zusätzliche Kilos ansehnlicher geworden.
Er nimmt weiter zu und trägtinzwischen eine Popsängerfrisur, doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, der sichtbare Teil einer tiefer greifenden Veränderung.
In seinem Innern vollzieht sich eine Wandlung. Um sie zu verstehen, braucht man nur sein Skizzenbuch aufzuschlagen. Sirenen
und anderes Meeresgetier tauchen darin nicht mehr so häufig auf; inzwischen sind Landschaften, Karikaturen von Lehrern, Darstellungen
von gewöhnlichen Gegenständen und ganz alltäglichen Szenen hinzugekommen. Selbst das sonst allgegenwärtige Porträt seiner
Mutter ist nur noch selten zu finden, dafür gibt es etliche von uns. Ich denke, es ist ein Zeichen für eine positive Entwicklung,
für eine bessere Anpassung an die Welt. Als würde Lucs Äther kondensieren, der Boden unter seinen Füßen fest werden. Durch
die eher prosaische Reibung mit unserer kleinen Familie wird die Realität für ihn zugänglicher. Dem Reich der Träume, der
wahren Heimat seines Herzens, wird er zwar nie ganz abschwören, doch betet er weniger dringlich zum Leguan als früher. Sein
fantastisches Theater spielt nach wie vor allabendlich vor vollem Haus, aber er hat aufgehört, den Tagesanbruch zu verdammen.
Ftan ist und bleibt das Ziel seiner Träume, allerdings unterliegt er nunmehr der mächtigen Anziehungskraft einer Familie,
eines Zuhauses, und so entsteht ein neues Gravitationsgleichgewicht. Er, der sich von den Gestaden der menschlichen Gemeinschaft
immer nur abgewandt hat, findet endlich einen Hafen, in dem er vor Anker gehen kann. Er, der Anhänger von Seereisen ins Innereder Seele, der Liebhaber imaginärer Meere, der von jeher den Turbulenzen der Oberfläche den Frieden der Tiefe vorgezogen hat,
wagt es plötzlich, aufzutauchen. Der verfluchten Realität, die er bislang nur durch ein Prisma des Schmerzes wahrgenommen
hat, vermag er auf einmal ungeahnte Vorzüge abzugewinnen; er stellt fest, dass man, ohne seinen Träumen abzuschwören, darin
Wurzeln schlagen kann, was für ihn eine echte Offenbarung ist. Er stellt sich der Herausforderung. Ist bereit, Gestalt anzunehmen.
Selbst in der Schule versucht er, sich an alles zu gewöhnen. Er flüchtet nicht länger in sein Schließfach. Er bemüht sich,
die Flure gelassenen Schrittes in der Mitte entlangzugehen. Dennoch ist ihm die hermetische Stille der Bibliothek lieber.
Er verbringt dort möglichst viel Zeit und lernt wie ein Besessener. Da man in seinem Leben schließlich etwas Sinnvolles tun
muss, hat er beschlossen, ein großer Tiefseeforscher, eine Art besserer Cousteau, zu werden.
*
Der Frühling behauptet sich, nachdem er dem altersschwachen Winter die Vormachtstellung streitig gemacht hat, und verleiht
dem Strand eine neue Gestalt, indem er ihn mit reißenden Rinnsalen zerfurcht. Die Schmelze erreicht auch Les Gigots, was unsere
Wallfahrten zur Bucht erleichtert. Wir lassen unsere Schals auf der Bank am Eingang zur Höhle liegen. Die Viren nutzen die
Gelegenheit und greifen an, die Thermometer werden gezückt, derKrieg der Taschentücher bricht los, bis die Blutkörperchen zum Gegenangriff übergehen. Ein durchdringender Duft nach fruchtbarem
Humus liegt überall in der Luft, und Mama zeigt sich für dieses Phänomen universeller Regenerierung durchaus empfänglich.
Die immer länger werdenden Tage lassen sie rastlos werden. Sie brütet über der Zeitung, studiert die Anzeigen, liest die Stellenangebote.
Sie sehnt sich nach Unabhängigkeit und wäre gern wieder erwachsen. Unter vier Augen erzählt sie mir von ihren Plänen, demnächst
in die Stadt zu ziehen, aber sie
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