Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Lächeln des Leguans

Titel: Das Lächeln des Leguans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
denn er musste unbedingt fort von hier, ganz gleich wohin, nur raus aus diesem Irrenhaus.
     In der Küche erwartete uns der aufgelöste Priester mit einem Teller Dattelhäppchen, die er Luc zur Aufmunterung reichen wollte.
     Ich brüllte ihn an, er solle mir aus dem Weg gehen, und so gelangten wir, ich weiß selbst nicht wie, nach draußen.
    Ich erinnere mich an die herabstürzenden Sterne, an das Gewicht meines Freundes auf meiner Schulter. Ich ging hinunter zum
     Strand. Ich setzte Luc am Fuße einer Düne ab, um zu verschnaufen und nachzudenken. Die salzige Luft tat ihm gut, er atmete
     ruhiger und bewegte sich ein wenig. Er stammelte wirres Zeug über unverfrorene Leuchtturmwärter, Nebelhörner, die unentwegt
     heulten, und aufgebrachte Weißwale. Nach einer Weile fing er an zu weinen. Wahre Niagarafälle. Von seinen Emotionen überwältigt,
     schluchzte er sich mit weit aufgerissenem Mund die Seele aus dem Leib und rief nach seiner Mutter. Man hätte meinen können,
     er sei auf einen fernen Planeten des Leids katapultiert worden. Er sagte immer wieder, das sei unmöglich, sie könne doch nicht
     tot sein. Er weigerte sich zu begreifen, dass er vergebens so fest daran geglaubt hatte. Der Bericht des Priesters sei natürlich
     eine einzige Lüge; was den Brief betreffe, so habe Loiselle ihn gefälscht, um ihn hinters Licht zu führen. Seine Mutter könne
     ihn doch nicht einfach verlassenhaben und ins Wasser gegangen sein. Das Meer hätte so etwas nicht zugelassen. Sie müsse noch am Leben sein, schließlich habe
     man ihren Leichnam nicht gefunden; sei das etwa kein Beweis? Dabei kannte er die Wahrheit. Er klammerte sich verzweifelt an
     die Geschichte vom Leichnam, der nie an Land gespült worden war, doch das war nur das letzte Aufbegehren einer schwindenden
     Hoffnung, denn Luc wusste sehr wohl, dass Mütter keine Wale waren, dass sie nicht unbedingt strandeten, wenn sie starben.
     Er wusste, eine Mutter war etwas Kleines, Leichtes, das von den Gezeiten kaum erfasst wurde, das aufs offene Meer hinaustreiben
     konnte, ohne je zurückzukehren, in weite Ferne, um inmitten der Anemonen, das Haar mit Tang verschlungen, in der Tiefe zu
     ruhen.
    Ich weinte auch, weil Tränen ansteckend sind und diese Ungerechtigkeit mich so aufwühlte. Nie würde Luc das Antlitz seiner
     Mutter zu sehen bekommen oder ihre samtene Umarmung genießen können. Nie würde er ihre Knie mit seinen hübschen Muscheln schmücken,
     sich in ihre Wärme schmiegen oder den perlmutternen Worten lauschen, die allein eine Mutter zu sagen vermag. Die Liebe war
     tot. Aber wenigstens blieb ihm noch der Hass, ein pulsierender Hass, den ich spüren, den ich benennen konnte. Der Hass auf
     die Väter, ob sie echt waren oder nicht. Der Hass auf den dreckigen Schweinehund, der der Liebe in die Kehle gebissen hatte,
     der in diesem Augenblick gerade in seinem stinkenden gelben Haus lag und schnarchte. Der Hass auf jenen unbekannten Matrosen,der vom anderen Ende der Welt gekommen war, um mit seinen nichtsnutzigen Freunden die Liebe zu schänden und sich dann, ohne
     die Folgen zu kennen oder auch nur zu erahnen, aus dem Staub zu machen. Und der noch größere Hass auf ein Dorf, das er am
     liebsten in Flammen hätte aufgehen sehen, auf einen Haufen Feiglinge, die tatenlos zugeschaut hatten, wie die Liebe zugrunde
     ging. Der Hass war wenigstens etwas. Er konnte einen nähren. Er war besser als nichts; zumindest war er ein Grund zu leben.
    Schließlich verstummte Luc, saß da und wiegte sich wie ein Roboter, während das diebische Meer scheinheilig schimmerte, als
     sei nichts geschehen. Erschöpft sank Luc auf den Dünenhang. Ich deckte ihn mit meinem Pullover zu und hielt Wache. Ich war
     froh, als ich kurz darauf das sanfte Plätschern seines Tritonenjargons hörte, denn das bedeutete, dass er mit Seinesgleichen
     schwamm. Luc hatte sich in die vertrauten Gewässer des Traums geflüchtet, und ich wusste, dass er dort wenigstens von allem
     Schmerz befreit war. Armer schräger Bursche. Warum musste er es nur erfahren? Ich bedauerte, dass man ihn nicht eines Tages
     in einem von den Wellen angeschwemmten Korb am Ufer gefunden hatte, ohne jeden Hinweis auf seine Herkunft. Alles wäre so viel
     einfacher gewesen, und so viel Leid hätte vermieden werden können.
    Die Nacht hüllte sich in ein anderes Gewand. Der Mond nahm an einer nebulösen Maskerade teil. Eigentlich wollte ich Luc nach
     Hause bringen, doch hatte ichmeine eigene Erschöpfung

Weitere Kostenlose Bücher