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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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auseinanderzusetzen. Wenn der Himmel sich verdunkelte, erinnerte sie das an Naru, an dieses ewige Halbdunkel und an diese verborgenen, wahnsinnig machenden Geheimnisse. Während ihrer Genesung beschäftigte sie sich zwar nicht jeden Tag damit, hatte es sich jedoch mittlerweile zur Gewohnheit gemacht, den Sonnenuntergang zu betrachten. Laud leistete ihr dabei für gewöhnlich Gesellschaft, und das wollte sie nicht missen.
    »Du solltest wirklich nicht so viel Zeit mit Nachdenken verbringen«, sagte eine Stimme hinter ihr.
    Sie lächelte. »Wäre es dir lieber, wenn ich Selbstgespräche führen würde?«, witzelte sie, während Laud sich hinter ihr an die Reling lehnte. »Ich genieße es nachzudenken, Laud. Mehr habe ich im Moment nicht zu tun.«
    »Das ist alles?«, fragte Laud lächelnd.
    Lily blickte wieder aufs Meer hinaus. »So ziemlich. Es entspannt. Keine Verantwortungen, keine Prophezeiungen, niemand, der von mir erwartet, ihn in eine bessere Zukunft zu führen. Nur ich und das Wasser.«
    »Wenn ich mich recht entsinne«, sagte Laud, »dann warst du diejenige, die das alles aus freien Stücken begonnen hat.«
    Lily lachte. Sie mochte es, wenn er sie neckte. Noch vor einem Monat hätte er es nicht gewagt, hätte zu viel Angst davor gehabt, das Grauen würde zurückkehren. Aber das war sie hundertmal mit Honorius durchgegangen, hatte so viel darüber gesprochen, bis es fast etwas geworden war, das einem anderen zugestoßen war. Zwar erinnerte sie sich daran, wie es sich angefühlt hatte, diese elende, überwältigende Hoffnungslosigkeit. Doch die damit verbundenen Gefühle waren versiegelt. Honorius verglich es mit der Art, wie er sich selbst vor vielen Jahren durch den Alptraum gekämpft hatte, sich mit einer brennenden Fackel das Fleisch versengt hatte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sich diesen Erinnerungen zu stellen war schmerzhaft, aber es war jetzt ein Schmerz, den sie im Zaum halten und bannen konnte.
    »Wird uns Honorius Gesellschaft leisten?«, fragte Lily. »Ich weiß, dass er mit seinen Aufgaben beschäftigt ist, aber nach allem, was er für uns getan hat, könnten wir doch wenigstens unseren letzten Abend hier mit ihm verbringen.«
    »Bist du dir immer noch sicher, dass du morgen aufbrechen möchtest?«, fragte Laud, nun ernster. »Wir könnten noch ein paar Tage warten.«
    Völlig überzeugt war Lily nicht davon, dass sie bereit dazu war. Sie schlief mittlerweile besser und hatte sich schon seit Monaten nicht mehr so ausgeglichen gefühlt. Aber das war hier so, draußen auf See. Nach Agora zurückzukehren würde keine einfache Reise werden. Laud hatte erzählt, viele der naruvanischen Stollen seien hinter ihm eingestürzt, und da der Schienenknoten beschädigt war, würden sie nicht imstande sein, den Mittelpunkt wiederzufinden. Der unterirdische Weg war bis auf Weiteres versperrt. Die einzige Möglichkeit bestand also in der langen Reise über Land, wieder zurück durch Giseth. Immerhin würden sie nicht zu Fuß gehen müssen. Honorius hatte ihnen ein Schiff zur Verfügung gestellt, einen schmalen Raddampfer, der sie den gesamten Verlauf des Flusses Ora hinauf transportieren konnte, bis vor die Tore von Agora.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es ist Zeit zu gehen. Mark und Ben machen sich bestimmt schon furchtbare Sorgen. Es sind nur noch wenige Wochen bis zum Agora-Tag; wir sind seit Monaten weg, und …«
    »Sie werden es verstehen«, beharrte Laud. »Du musstest dich erst richtig erholen. Denk daran, es ist nicht so, als würde sich die ganze Welt um dich drehen.«
    Lily lächelte. »Das weiß ich. Und glaube mir, ich bin froh darüber.« Sie blickte zu Laud auf, in dessen Haar sich das Rot des Sonnenuntergangs widerspiegelte. »Aber du bist mir trotzdem durch halb Naru hinterhergejagt, nicht wahr?«
    Laud gab keine Antwort.
    Sie standen noch einen Moment länger zusammen, ohne etwas zu sagen. Lily war bereits so lange unterwegs, dass sie den Moment der Stille genoss. Nur noch ein Abend, bevor die Reise wieder begann.
    »Ich habe Angst«, sagte sie schließlich. Sie spürte, wie Laud ihr die Hand drückte, aber er sagte nichts. Er schien zu wissen, wann sie mehr erzählen wollte. »Eigentlich nicht vor der Reise«, fuhr sie fort. »Nicht einmal davor, nach Agora zurückzukehren, falls es uns gelingt, diese Mauern zu überwinden …«
    »Ich bin mir sicher, dass Honorius’ Trick funktionieren wird«, sagte Laud beruhigend. »Sie hätten ihn wohl kaum dafür verbannt, es entdeckt zu

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