Das Land des letzten Orakels
haben, wenn er nicht wirklich einen Weg zurück hineingefunden hätte, auch wenn er ihn selbst nie benutzen konnte.« Zögernd legte er ihr einen Arm um die Schulter. »Wovor also hast du Angst?«
»Vor dem Alptraum«, gab Lily zu. »So schlimm wie dieses Mal war ich ihm noch nie erlegen. Er wird auf der Lauer liegen.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich will nicht, dass er mich jemals wieder beherrscht.«
Laud schlang seine Arme fester um ihre Schultern. »Das wird er auch nicht«, erklärte er. »Ich verstehe wirklich nicht alles, was Honorius sagt, aber er ist sich sicher, dass sich der Alptraum nur von Ängsten nährt, die du unterdrückst, oder von deinen Besessenheiten. Und mit alledem bist du jetzt im Frieden.«
Lily lächelte. »Frieden«, wiederholte sie. »Ja.«
Sie erinnerte sich daran, wie wichtig es ihr gewesen war, ihre Eltern zu finden, und wie diese Suche zum Einzigen geworden war, was ihr wirklich etwas bedeutete.
Nun, sie hatte ihre Eltern gefunden. Ihr Vater war vor ihren Augen gestorben, und ihre Mutter erinnerte sich nicht einmal an ihre Existenz. Das war nicht das, worauf sie gehofft hatte. Aber wenn sie nun an die beiden dachte, versuchte sie, sie sich so vorzustellen, wie sie gewesen waren, bevor die ganzen Prophezeiungen und Geheimnisse ihrer beider Leben ruiniert hatten.
Als Laud ging, um Honorius zu suchen, blickte sie noch eine ganze Weile aufs Meer hinaus. Ob ihr Vater wohl auch hier gestanden und die sanfte Dünung betrachtet hatte? Sie stellte sich vor, wie er seine Braut hierhergebracht hatte, um zum Horizont zu schauen und sich zu fragen, was die Zukunft wohl für sie bereithielt.
Vielleicht waren sie damals glücklich gewesen. Lily hoffte es.
Das Flussschiff war ein wahres Wunderwerk aus Holz und Messing. Es war lang und schmal und hatte Schaufelräder unmittelbar unter der Wasseroberfläche und einen unablässig qualmenden Schornstein. Honorius meinte, wenn es klein genug dafür gewesen wäre, hätten sie es als Schatz in der Gruft aufbewahrt. Es stammte aus der alten Welt, war eines der Relikte des ursprünglichen Waage-Bunds, für eine schnelle Beförderung auf dem Fluss nach Agora ausgelegt. Der Gedanke, dass es nun endlich seine Funktion erfüllen würde, erfreute Lily. Wenigstens waren nicht alle Relikte des Waage-Bundes so gefährlich wie Wulfrics Steinschlosspistolen.
Der Morgen war in hektischer Betriebsamkeit vergangen. Honorius hatte ihn damit verbracht, den Dampfer mit Proviant und Treibstoff zu beladen, um nur ja nicht Lilys Dank anhören zu müssen. Der vernarbte Mann hatte sich stets geweigert, über sich selbst zu sprechen, hatte die Unterhaltung immer wieder auf seine Patienten gelenkt. Selbst der Grund, warum er aus Agora verbannt worden war, und das gefährliche Geheimnis, das er entdeckt hatte, hatte sie ihm erst nach vielen Gesprächsabenden abringen können. Doch nachdem er ihnen erzählt hatte, was sein Geheimnis war – ein geheimer Weg nach Agora hinein –, war Lily klar, dass es Zeit war zurückzukehren.
Als Honorius die letzten Lebensmittel verstaut hatte, knöpfte Lily sich ihn vor. Es gelang ihr, ihn zu umarmen, bevor er sich ihr entziehen konnte. Und es gelang ihr, ihn zu fragen, warum er ihr wirklich half. Bevor er antwortete, rieb er sich den Handrücken und biss dann die Zähne zusammen.
»Weil ganz gleich, wie sehr du es verabscheust, du ein leuchtendes Licht der Wahrheit in dieser ganzen Dunkelheit bist«, sagte er sanft. »Nicht harte Fakten wie das Orakel. Echte Wahrheit, echtes Verständnis. Du wirst diese alte Weise zu leben für immer aufbrechen. Agora braucht das. Ich brauche das.« Dann drehte er sich weg. »Ich bin das Dunkel leid.«
Dieses Bild stand ihr während der gesamten Verabschiedung vor Augen, während Laud die Taue löste und den Dampfkessel heizte. Erst als der Motor brummend ansprang, wurde ihr klar, dass die Reise wirklich stattfand, und sie winkte Honorius lebhaft zu, bis das Sanatorium in der Ferne verschwand. Er hatte ihr ein neues Leben geschenkt, und sie würde es nicht vergeuden. Dann drehte sie sich um und übernahm das Steuerrad.
Vor ihnen erstreckten sich die Sümpfe. Sie waren auf dem Weg nach Hause.
Im Verlauf der folgenden Tage steuerte Lily meist selbst, während Laud den Heizkessel mit Holz befeuerte. Der Schornstein qualmte, die Schaufelräder drehten sich, und das Schiff beförderte sie mit der richtigen Geschwindigkeit durch die Bereiche des Sumpflandes, in denen das Wasser tiefer war. Sie kamen
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