Das Land des letzten Orakels
einen Apfelbaum, der noch reichlich Früchte trug. Sie pflückte alle Äpfel, an die sie herankam, doch ihre Zuversicht war angeknackst. Der Alptraum um sie verhielt sich merkwürdig. Sie spürte, wie er an ihrer Psyche nagte, doch er war anders als zuvor. Im Wald versuchte der Alptraum normalerweise ihr Angst einzuflößen. Nun jedoch fühlte sich jedes ihrer Gefühle zu intensiv an. Jeder Apfel, der ihr in den Schlamm fiel, löste den Wunsch in ihr aus, laut zu fluchen, jedes Insekt, nach dem sie schlagen musste, ließ sie kochen vor Wut. Sie wusste natürlich, was sie zu tun hatte; sie konzentrierte sich und verdrängte es. Dennoch war sie beunruhigt. Es ähnelte allzu sehr dem unnatürlichen Zorn, den sie unten in Naru verspürt hatte, als der Alptraum es auf ihre Frustration abgesehen hatte. Während des Rückwegs zum Fluss war sie froh darüber, dass sie nicht länger im Wald weilen musste. Was immer den örtlichen Alptraum so erregt hatte, sie wollte ihm nicht begegnen.
Als sie sich dem Waldrand näherte, hielt sie irgendetwas davon ab, laut nach Laud zu rufen. Vielleicht war sie immer noch ein wenig nervös. Oder sie wollte keine Aufmerksamkeit auf ihre magere Ausbeute lenken. Bestimmt hatte er genug Zeit gehabt, um so viel Holz zu sammeln, dass er das Schiff damit versenken konnte.
Daher erkannte sie erst, als sie das Schiff erreichte, dass etwas nicht stimmte.
Es trieb ruhig und verlassen auf dem Wasser.
»Laud!«, rief Lily leise.
Keine Antwort.
»Laud? Schläfst du …«
Immer noch nichts. Lily kletterte an Bord, stellte hastig den Korb ab und schaute sich um.
Das Feuer im Heizkessel war erloschen. Die Kabinen waren leer. Von Laud war nirgends eine Spur zu sehen.
Besorgt rannte Lily los. Vielleicht war ihm das Holzfällen schwerer gefallen, als er hatte zugeben wollen. Ja, dachte sie, während sie zurück in Richtung der Baumgrenze lief, das würde ihm ähnlich sehen – eine Niederlage nicht eingestehen wollen.
Abrupt blieb sie stehen.
Dort stand sein Korb, halb gefüllt mit Scheiten. Daneben war ein Schössling und daneben noch einer, tief zerfurcht von Kerben.
Laud war nicht hier. Auch seine Axt nicht. Nur ein Abdruck war im Schlamm, dort, wo jemand gefallen war. Und Fußspuren, mindestens zwei, keine von beiden war ihr vertraut.
Sie rannte in den Wald und bemühte sich, den Fußspuren zu folgen. Doch hier, fern vom Ufer, war der Boden trocken, und sie war nicht vertraut damit, Spuren zu lesen.
Wem immer sie gehören mochten.
Während ihr die Gedanken durcheinanderwirbelten, lehnte sich Lily an einen Baum. Ihr Atem ging stoßweise, und ihr drehte sich alles. Ihr war schlecht, und zugleich war sie wütend. Und tief in ihr regte sich der Wahnsinn des Alptraums. Ja, sagte er. Du hast ihn allein gelassen. Er war noch nie in Giseth, wusste nicht, was er tun sollte, und du hast ihn allein gelassen … Und jetzt ist er weg … er ist ganz allein … und der Alptraum wird dich holen kommen, da niemand sonst da ist, der ihn aufhalten kann … Es sei denn, du kämpfst und kratzt und läufst drauflos, um ihn zurückzuholen …
Sie presste sich die Fingerknöchel gegen die Stirn. Der Alptraum würde sie nicht noch einmal bekommen. Nicht jetzt, da Laud auf sie angewiesen war.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf Laud. Sie stellte sich sein Gesicht vor, und es erschien ihr so deutlich, dass ihr ein Schock durch den Körper fuhr und sie wieder klar denken konnte. Wie sollte sie ihn finden? Aufspüren konnte sie ihn nicht. Sie konnte zwar kreuz und quer durch den Wald streifen, aber das war ein sicherer Weg, sich von Wölfen fressen zu lassen.
Sie fluchte laut. Warum kam sie nicht darauf? Wie hatte sie es seinerzeit geschafft, diesen Wald zu überleben?
Mark. Sie hatte überlebt, weil sie nicht allein gewesen war. Weil immer dann, wenn sie verwirrt gewesen war, Mark einen Ausweg entdeckt oder eine neue Idee hatte. Sie dachte angestrengter nach und presste die Hände gegen die raue Rinde eines Baums. Was würde Mark tun? Welche seltsame Idee würde ihm einfallen?
Sie wünschte, sie könnte jetzt seine Gedanken lesen. Genau wie damals, als sie beide gemeinsam geträumt hatten und in ihren Erinnerungen versunken waren.
Geträumt …
Urplötzlich wusste Lily, was sie tun musste.
Ein wenig weiter im Wald stieß sie auf eine geeignete Lichtung – bewachsen mit Moos und Adlerfarn und weich genug, um darauf schlafen zu können. Froh darüber, dass es ein warmer Abend war, legte sie sich
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