Das Land des letzten Orakels
sie.
Laud starrte sie an. Sie schien sich gewaschen und ausgeruht zu haben, und nun, da er genauer hinschaute, sah er, dass er in einem aus Holz geschnitzten, bequemen Bett in einer gemütlichen Hütte lag. Auf der Feuerstelle brodelte Suppe, und auf dem Boden lagen verstreut kleine Holzspielzeuge herum. Es war sehr idyllisch, ergab aber überhaupt keinen Sinn.
»Ich wollte nur nachprüfen …«, brachte Laud heraus. »Ich träume doch nicht mehr, oder? Das hier wird sich doch nicht gleich in einen fürchterlichen Alptraum verwandeln? Es ist bloß … entweder warst du diejenige, die mich niedergeschlagen hat, oder …« Laud verstummte; er wollte gar nicht darüber nachdenken, was das bedeuten würde.
Lily zog die Brauen hoch. »Laud, sehe ich wirklich so aus, als wäre ich vom Alptraum besessen?«, fragte sie mit unbewegter Miene.
Laud blinzelte. »Nein. Du siehst sogar glücklich aus, was mir, bedenkt man, dass ich mich gerade von einem heimtückischen Angriff erhole, nicht ganz willkommen ist.«
Lily kratzte sich am Hinterkopf. »Ah ja … aber das wird schon wieder; er hat nicht so fest zugeschlagen, und es tut ihm auch wirklich leid. Der Orden hat neulich Fremde geschickt, die sie aufspüren sollten. Sie wussten nicht, dass du mein Freund bist; du bist hier absolut sicher …«
»Wer sind die ?«, fragte Laud matt. »Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen. Lily, bitte mach nicht so ein Geheimnis daraus.«
Er versuchte zu lächeln, und Lily lachte. Dann hob sie den Kopf und rief: »Owain! Freya! Er ist wach.«
Laud wollte wütend sein. Dazu hatte er seiner Meinung nach auch jedes Recht. Dieser junge Mann, Owain, hatte ihn mit einem Holzknüppel niedergestreckt, und wenn man bedachte, dass Owain die Größe und Stärke einer Eiche hatte, grenzte es an ein Wunder, dass er damit nicht größeren Schaden angerichtet hatte. Die junge Frau, Freya, hatte ihm etwas eingeflößt, das ihn in Schlaf versetzt hatte, und sie beide hatten ihn als Gefangenen in ihrer Hütte gehalten.
Doch um Freyas Schultern hing eine Schlinge aus Tuch, in der ein schlafendes Baby lag. Und sosehr Laud das junge Paar auch hätte anschreien wollen, er brachte es doch nicht über sich, ihren kleinen Sohn zu wecken.
Lily streckte die Hand aus und strich dem Kind behutsam über den Kopf. »War ich wirklich so lange weg?«, fragte sie überrascht. »Wie heißt er denn?«
»Er heißt Owain«, erwiderte Freya lächelnd. »Nach seinem Vater.«
»Ist das denn nicht ziemlich verwirrend?«, fragte Lily strahlend. Auch Laud konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Gar nicht so sehr wegen des Kleinen, auch wenn dieser zugegebenermaßen niedlich aussah, sondern weil er Lily so glücklich erlebte. Seit sie sich kannten, war sie jeden Tag von Sorgen geplagt gewesen. So glücklich hatte er sie noch nie gesehen.
Der einzige Schatten, der auf diese Glückseligkeit fiel, lehnte am Rand der Lichtung an einem Baum. Die Frau war älter als Freya und Owain, etwa vierzig Sommer, und trug grüne Kleider, die sie ein wenig wie die Mönche aus der Kathedrale aussehen ließen. Sie hatte gesagt, sie hieße Elespeth und habe Lily zur Hütte von Owain und Freya geführt, hatte sich ansonsten aber sehr bedeckt gehalten.
Es sah aus, als ob sie sich unbehaglich fühlte. Immer, wenn sie Lilys Blick auffing, schaute sie hastig woandershin. Mehr als einmal wandte sich Laud ihr zu, um etwas zu fragen, spürte aber sogleich Lilys Hand auf der seinen. Auch sie wollte nicht mit ihr reden.
Stattdessen setzten sie sich in das vom Morgentau feuchte Gras, um ein Frühstück zu sich zu nehmen, das aus pürierter Linsensuppe bestand, während Lily sie nun richtig miteinander bekannt machte. Es war eine lange Geschichte. Sie erzählte ihm, dass Owain und Freya ihre einzigen Freunde in Giseth gewesen waren und dass die beiden aus ihrem Heimatdorf geflohen waren, um einer Bestrafung dafür zu entgehen, dass sie einander liebten. Nun lebten sie im Wald unter dem wachsamen Auge von Elespeth und ihresgleichen – dem Zirkel der Schatten, einem religiösen Orden, der gelernt hatte, mit dem Alptraum zu leben. Es war eine faszinierende Erzählung, bei der sich Laud jedoch sonderbar unbehaglich fühlte. Das lag nicht nur daran, dass Mark ihm diese Geschichte schon einmal erzählt und er, Laud, gespottet hatte, sie wäre unglaubwürdig. Nein, dies war der Teil von Lilys Leben, in dem er nicht vorkam – jene anderthalb Jahre, die sie in Giseth gereist war, während er in Agora geblieben
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