Das Land des letzten Orakels
starrte Lily zornig an, so als wäre es deren Schuld. »Such dir ein Versteck«, zischte sie.
Im nächsten Moment raffte Septima das Tuch zusammen, und Tertius und sie löschten die Flammen ihrer Laternen. Von der plötzlichen Dunkelheit überrascht, ertastete sich Lily einen Weg hinter eine Reihe dicht gedrängter Stalagmiten.
Sie hörte sie, bevor sie sie sah – die leisen, beständigen Schritte von dick besohlten Stiefeln. Dann sah sie ein Licht näher kommen und ihre an der Wand tänzelnde Schatten.
Sie sah gerade noch, wie Tertius und Septima sich in kleine Nischen auf der gegenüberliegenden Seite des Stollens kauerten, bevor sie selbst sich hinter die Felsen duckte.
Sie lugte hervor. Allzu furchteinflößend sahen ihre Verfolger nicht aus. Es war eine kleine, dicht beieinander gehende Gruppe. Wie bei Tertius und Septima waren auch ihre Körper blass und androgyn. Sie machten allerdings einen kräftigeren Eindruck als Lilys neue Freunde. Der einzige Unterschied, den sie erkennen konnte, bestand darin, dass sie dicke Handschuhe trugen, die ihnen bis an die Ellbogen reichten, und sich Stoffstreifen über die untere Gesichtshälfte geschlungen hatten. Lily kniff die Augen zusammen. Diese Handschuhe sahen abgewetzt aus, abgenutzt. Wenn sie die Reaktion von Tertius und Septima auf körperliche Nähe bedachte und sich vorstellte, dass es diesen »Wächtern« gestattet sein musste, ihre Zielobjekte zu berühren, dann musste man sich tatsächlich vor ihnen fürchten. Was sie selbst anging, so konnte sie womöglich vor einem oder zweien fliehen, doch die Gruppe bestand aus zehn Personen, und so hielt sie den Kopf unten, bis sie in der Ferne verschwunden waren.
Tertius und Septima pressten sich weiter gegen die Stollenwand, noch lange nachdem die Wächter weitergezogen waren. Dann bewegte sich Tertius plötzlich und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.
»Das war knapp«, stellte er theatralisch atmend fest.
»Geht es dir gut?«, fragte Septima aufrichtig besorgt. Lily bemerkte, dass ihre Hand dicht vor Tertius’ Schulter verweilte.
»Ja«, erwiderte er mit zittriger Stimme. »Komm, Lily. Hier entlang …«
»Hm …«, brummte Lily geistesabwesend. Zum Glück bemerkten Tertius und Septima bei ihrem Aufbruch nicht, dass Lily es vorzog, in gehörigem Abstand hinter ihnen zu gehen.
Für Menschen, die Wissen so hoch einschätzten, waren sie nicht besonders wachsam. Lily hatte sich sehr gut versteckt, doch Tertius und Septima hatten kaum Zeit gefunden, sich überhaupt zu verbergen.
Tatsächlich war sie sich ziemlich sicher, dass ihre Verfolger Tertius und Septima klar und deutlich gesehen hatten. Dennoch hatten sie durch sie hindurchgestarrt, als wären sie Luft.
KAPITEL 4
Das Rad
»Ja?«
Der große, schwere Mann füllte den Türrahmen vollständig aus, sodass es Mark überraschte, dass er überhaupt hindurchgepasst hatte. Er starrte ohne Feindseligkeit auf Mark hinab, jedoch in dem unerbittlichen Wissen, dass ohne seine Erlaubnis niemand durch diese Tür kommen würde. Der Geruch von abgestandenem Bier und Rauch drang in Marks Nase, doch hinter der massigen Gestalt des Mannes vermochte er überhaupt nichts zu erkennen. Ganz gleich, was hier vor sich ging, es war der letzte Ort, an dem Mark erwartet hätte, Cherubina zu finden.
Beinahe zwei Wochen hatten Mark und Cherubina in einem kleinen, muffigen Gebäude im Widder-Bezirk gewohnt. Es war ein ideales Versteck – trist, menschenleer und praktisch nicht unterscheidbar von den anderen grauen Häusern ringsum. Selbst wenn man sie in der Gegend sehen würde, würden die Eintreiber keine Ahnung haben, wo sie mit der Suche anfangen sollten. Die Bewohner des Widder-Bezirks hatten ihren eigenen Rat und waren nicht der Typ Mensch, der herumschnüffelte.
Nichtsdestotrotz verließen sie ihre beengten Räume kaum. Eintreiberstreifen patrouillierten immer häufiger, und Mark zuckte nach wie vor zusammen, wenn er ihre schrillen Pfeifen vernahm. Ab und zu kam ein Besucher vorbei – in der Regel Pete, Marks Vater, der ihnen Essen brachte. Weder Mark noch Cherubina konnten von sich aus Handel um Nahrungsmittel treiben; ihre Siegelringe wären sofort wiedererkannt worden, wenn die Eintreiber die Unterlagen der Händler überprüften. Die Besuche seines Vaters gehörten zu dem wenigen, was diese vergangenen Tage erträglich gemacht hatte. Zwar hatten die anderen den alten Gefängniswärter gewarnt, er solle vorsichtig sein, doch konnte ihn nichts von seinen
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