Das Land des letzten Orakels
Besuchen abhalten. Im Verlauf von über drei Jahren hatten Mark und Pete nicht mehr als einen einzigen Tag gemeinsam verbracht, und sie waren entschlossen, diese verlorene Zeit nun nachzuholen.
Doch die Besuche waren kurz. In aller Regel blieben Mark und Cherubina unter sich. Cherubina erzählte nie von ihrer Zeit in Snutworths Turm, und ehrlich gesagt wollte Mark auch gar nichts davon wissen. Also hatte es an ihm gelegen, sie beide zu unterhalten. Er hatte sich sehr bemüht, sie bei Stimmung zu halten. Er hatte Cherubina versichert, das Direktorium habe anderes zu tun, als sich lange um ihre Verfolgung zu kümmern. Doch im Verlauf der Tage gingen ihm die Geschichten und auch die Geduld aus. Er wollte nach draußen, um Lily zu finden. Stattdessen schaute er Cherubina an und stellte fest, dass sie jeden Tag weniger dankbar für ihre Rettung war und immer missmutiger wurde. Verübeln konnte er ihr das nicht – sie hatte lediglich ein Gefängnis mit einem anderen vertauscht. Bald verbrachten sie ganze Tage schweigend. Dann ging Mark auf und ab, geradezu erstickend an seiner Untätigkeit, und Cherubina saß stumm da und nähte eine Reihe zunehmend schwermütiger wirkender Stoffpuppen.
Schließlich ertrug Mark es nicht länger. Er begann Spaziergänge zu unternehmen, nur kurz, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dabei war er vorsichtig, hielt sich von den Eintreiberstreifen fern und war immer zurück, wenn sein Vater zu Besuch kam. Pete machte sich trotzdem Sorgen.
Als Cherubina dann seinem Beispiel folgte und ihrerseits Spaziergänge unternahm, war Mark nicht allzu besorgt. Er überredete sie, dabei ein Kopftuch zu tragen, um ihre unverkennbaren Locken zu verdecken, und war froh, mit anzusehen, dass sie sich zunehmend weniger gefangen fühlte.
Dann aber ging sie immer häufiger aus. Wohin sie ging, erzählte sie ihm nicht.
Und dann, erst vor einer Stunde, hatte er ihre Nachricht gefunden.
Cherubina war wieder draußen, und als er nachschaute, wohin sie den letzten Rest Brot gelegt hatte, stieß er ihren Nähkorb um – jene einzige Habe, bei der sie darauf bestanden hatte, dass sie nur ihr allein gehöre. Das kleine Stück Papier war inmitten der Garnspulen zu Boden geflattert. Auf ihm stand ein einziger kritzliger Satz, und Mark hatte ihn ohne nachzudenken gelesen:
»Treffpunkt im Rad – Achter Stier, dritte Stunde nach Mittag.«
Achter Stier – das war das heutige Datum. Am liebsten hätte er die Nachricht zurück in den Nähkorb gestopft und vergessen, dass er sie je gefunden hatte. Es ging ihn nichts an, und er machte sich schon genug Sorgen um alles Mögliche. Wäre es um jemand anderen gegangen, hätte er die Sache auf sich beruhen lassen.
Aber es handelte sich um Cherubina. Bis vor zwei Wochen war sie noch nie ohne ein Heer von Bediensteten draußen gewesen.
Er zog seine Jacke an.
Lange brauchte er nicht, bis er das Rad gefunden hatte. Es war eine berühmte Schankstube tief im Stier-Bezirk. Doch mit der Wache vor der Tür hatte er nicht gerechnet.
»Ich bin …« Mark verhaspelte sich, da ihn seine Zuversicht verließ. »Ich bin hier wegen des Treffens.«
Der hünenhafte Mann nickte. »Du bist spät dran«, brummte er. »Mr Crede hat bereits begonnen.«
Er trat zur Seite und gab damit den Blick auf einen dunklen und verräucherten Innenraum frei. In Marks Hinterkopf ertönte ein Alarmsignal. Er war davon überzeugt, den Namen Crede schon einmal gehört zu haben, kam aber beim besten Willen nicht darauf, wo.
Er schaute an dem Schlägertyp hinauf. Einen Moment lang trug er sich mit dem Gedanken zu fragen, welche Art Treffen das hier war. Zum Glück hielt ihm sein gesunder Menschenverstand vor Augen, dass er so tun musste, als wisse er dies.
»Also, Mr … Tut mir leid, ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen«, sagte Mark, bemüht, höflich zu wirken.
Der Mann setzte ein unschönes Grinsen auf. »Nick, und vergiss ihn ja nicht wieder. Glaub nicht, der ›Mister‹ würde dir irgendwelche Vorteile einbringen, Junge. Es gibt hier keine Hackordnung; für Crede ist jeder gleich.«
Mark bemerkte, dass sich die Muskeln in Nicks gewaltigem Arm, mit dem dieser die Tür aufhielt, anspannten. Eine Sozialordnung gab es hier vielleicht nicht, aber Mark hätte darauf gewettet, dass, wenn es zu Unstimmigkeiten kam, diese sehr rasch und sehr direkt gelöst werden würden.
»Also … Nick, ist meine Freundin schon hier? Ich habe nämlich versprochen, mich hier mit ihr zu treffen. Sie würden sie erkennen, wenn
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