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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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wollte, dass jemand anders mehr wusste als er selbst.
    Snutworth schloss die Augen.
    Lautstärke und Intensität des Hohelieds schwollen an. Snutworth biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich, während es durch die Luft surrte. Die Felskammer fing an zu beben, und der Boden unter ihren Füßen schlingerte.
    »Es gibt nichts, was ich nicht wüsste«, sagte Snutworth triumphierend, während seine Stimme sich in hundert summende Echos aufspaltete. »Nur immer die gleichen alten Banalitäten, die gleichen unbedeutenden Belange, eine Million Mal hintereinander.«
    »Genau«, rief Mark über das Geräusch hinweg, während er sich taumelnd bemühte, sein Gleichgewicht zu bewahren. »Das Gleiche. Eine Million Menschen, jeder so vielschichtig wie der nächste, jeder mit guten und mit schlechten Seiten und so viel, was dazwischen liegt …«
    »Oder sind sie alle verschieden?«, griff Lily das Argument auf, während in der erbebenden Kammer Staub von der Decke herabfiel. »Alle erfüllt mit tausend Gedanken, die sich überallhin bewegen, bis man nicht mehr sagen kann, welcher den Sieg davontragen wird?«
    »Sie wollen wissen, warum der Waage-Bund zwei Richter wollte?«, rief Mark, dem nun alles klar wurde. »Weil alle Dinge zwei Seiten haben. Es gibt immer hundert verschiedene Arten, etwas zu betrachten. Deshalb werden Sie das Hohelied niemals beherrschen. Weil Sie nämlich zu kleinkariert denken. Hören Sie all diese Menschen?« Er rief. »Hören Sie – jeder einzelne ist wunderschön.«
    »Jeder einzelne ist schrecklich«, fügte Lily hinzu.
    »Wir sind Teufel«, sagte Mark.
    »Wir sind Engel«, sagte Lily.
    »Wir sind einfach nur Menschen …«, schrie Mark, während das Hohelied zu einem Geheul anschwoll.
    »… und das bedeutet, wir sind das Vielfältigste überhaupt«, schloss Lily.
    Snutworths Atem ging in kurzen Stößen. Mark spürte die Vibrationen in der Luft; der Thron fing mit einem tiefen Ton an zu surren.
    »Nein …«, rief Snutworth aus, bemüht, mit ruhiger Stimme seine Autorität wieder geltend zu machen. »Ich bin jenseits davon. Ich bin rein. Ich höre … alles … Ich verstehe … alles …«
    »Sie hätten Ihr Leben führen können, Snutworth«, sagte Mark geradezu mitleidig. »Sie hätten Ihren Weg machen können, aber stattdessen sind Sie nur ein billiger Abklatsch von allen. Ein inhaltsloser Mensch, dessen ganzes Leben darauf beruht, andere zu beherrschen. Es spielt keine Rolle, wie oft Sie die Fäden ziehen, Sie sind nicht Teil unserer Welt. Und das werden Sie jetzt auch nie mehr sein.«
    »Unsere Welt!«, fauchte Snutworth. Mark erkannte, dass Snutworth das letzte Quäntchen seiner gewohnten Gelassenheit verloren hatte; all diesen Gedanken zuzuhören forderte seinen Tribut. »Es ist alles falsch – alles ist nur ein Lügengespinst, um einen alten Plan umzusetzen. Agora, Giseth, Naru – nichts davon ist echt, niemand kann hier ein echtes Leben führen. Wir sind nur Wunschträume.«
    »So ist es vielleicht einmal gewesen …«, sagte Lily eindringlich, während die Echos sich um sie scharten. »Aber jetzt nicht mehr. Niemand hat uns gesagt, dass wir ein Experiment sein sollen; niemand hat uns gesagt, dass wir in eine bestimmte Richtung denken sollen. Und wir tun es auch nicht mehr. Wir haben uns verändert; wir sind Menschen. Wir führen ein eigenständiges Leben, das nicht von Prophezeiungen oder alten Plänen bestimmt wird. Wir sind unser eigener Herr, und das werden wir auch immer sein.«
    »Aber was sind Sie, Snutworth?«, fragte Mark, während das Hohelied erneut anschwoll, stärker nun als je zuvor. »Haben Sie auch Ihren Platz gefunden?«
    »Ist er hier, bei all diesen alten Geheimnissen?«, fuhr Lily fort, ihren Standpunkt erbarmungslos klarmachend. »Was nützt es, all dieses Wissen zu besitzen? Was wollen Sie damit machen?«
    »Ich … ich … beherrsche …«, stieß Snutworth atemlos hervor. In seiner Stimme schwangen so viele halb wahrgenommene Echos mit, dass sie kaum mehr wie die seine klang.
    »Was beherrschen?«, fuhr Lily fort. »Was haben Sie davon? Wenn alle so dumm sind, begierig nach allem, was sie in die Finger bekommen können, warum streben Sie dann nach geheimer Macht? Warum wollen Sie nicht den Ruhm? Warum sich hier verstecken?«
    »Sie sind ein Niemand«, sagte Mark aus tiefer Überzeugung.
    »Nein …«, sagte Snutworth mit kaum noch menschlicher Stimme.
    »Das Orakel hat das, was sie getan hat, wenigstens noch aus Pflichtgefühl heraus getan«, rief Lily.

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