Das Land des letzten Orakels
Kristall, die ein glitzerndes Feuerwerk aus Licht versprühte. Sie befand sich in der Mitte einer Höhle, die so gewaltig war, dass der Schienenknoten dagegen klein wirkte. Lily beobachtete, wie sich die Farben in dem Kristall wie wabernde Rauchwolken veränderten und miteinander verschmolzen. Sie erinnerte sich an den tief in ihrem Bündel verborgenen kleinen Kristall, der sie hierhergeführt hatte. Auch dieser absorbierte Licht und schimmerte mit einer winzigen Flamme. Doch das hier war im Vergleich dazu ein Flammenmeer. Es unter normalen Bedingungen anzuschauen wäre schon schwierig gewesen, doch nachdem sie die vergangenen Tage damit verbracht hatte, im Dunkel die Augen zusammenzukneifen, warf die plötzliche Helligkeit sie beinahe um. Sogar Septima und Tertius, das fiel ihr auf, bedeckten sich die Augen, als wäre das Licht auch für sie schmerzhaft.
»Ihr … lebt hier?«, fragte Lily heftig blinzelnd.
Septima lachte. »Kein Mensch könnte in der Nähe des Mittelpunkts selbst leben – dafür brennt die Flamme der Wahrheit zu hell. Außer für das Orakel …«
Tertius signalisierte Septima mit einem Blick zu schweigen und trat aus dem Karren heraus, um sich zwischen Lily und das grelle Licht zu stellen. Er lächelte nicht.
»Wir haben dich hierhergebracht«, sagte er ernst, »weil unter diesem Licht keine Lüge bestehen kann.« Er beugte sich näher vor – näher, als er Lily bis dahin gekommen war. »Sag es uns rasch, ist es wahr?«
Lilys Augen gewöhnten sich allmählich an das Licht. Hinter Tertius nahm sie nun die Silhouetten von Menschen wahr, die sich um den Mittelpunkt geschart hatten und genauso bunt gekleidet waren wie ihre Gefährten. Während sie zuschaute, löste sich eine kleine Gestalt aus der Gruppe und kam auf sie zu.
»Ist was wahr?«, fragte Lily, mit einem Mal verwirrt und besorgt.
»Wirst du im Mitternachts-Statut erwähnt?«, fragte Tertius mit mehr Nachdruck.
»Tertius …«, sagte Septima, plötzlich verängstigt. »Er kommt.«
»Sag es uns jetzt!«, schrie Tertius geradezu. »Wir brauchen etwas, mit dem wir um unsere Sicherheit handeln können!«
»Wieso? Wer kommt, wer …« Lilys Verwirrung nahm zu, und dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. »Der Dirigent – ihr habt mich zu ihm gebracht, nicht wahr?«
»Sag es mir!«, blaffte Tertius sie an, keinerlei Freundschaft mehr vortäuschend. »Du dummes, unmusikalisches Ding …«
»Na, na, so geht das aber doch nicht …«, sagte eine Lily unbekannte Stimme.
Tertius und Septima erstarrten und drehten sich beide um. Lily machte Anstalten davonzulaufen, hielt dann aber inne.
Der Dirigent stand vor ihnen. Er war mittleren Alters, hatte eine füllige Figur und trug eine dicke, schwere Brille. Er war ein wenig kleiner als Lily und mit einem schwarzen, staubigen Umhang bekleidet, ganz im Gegensatz zu allen anderen, obwohl auch er blass und weißhaarig war. Lily bemerkte mit wachsender Überraschung, dass er zudem keinerlei Wachen oder Begleitschutz bei sich hatte. Er trug auch keine Waffen, jedenfalls nichts Bedrohlicheres als einen schlanken weißen Taktstock, mit dem er sich geistesabwesend gegen die Stirn tippte.
Tertius und Septima traten zurück. Überrascht stellte Lily fest, dass sie beide zitterten.
»Wollt ihr mir euren Gast nicht vorstellen?«, schlug er mit warmer, leicht unsicherer Stimme vor.
Ohne Vorwarnung warf sich Septima dem Mann vor die Füße.
»Verschont mich, Dirigent! Ich habe das Scheusal hergebracht!«
Tertius riss den Mund auf, während Septima vorwärtskroch.
»Tertius hat einen Außenseiter gefunden, Sir, ein Mitglied des Orchesters! Er hat sie gefangen genommen.«
Mit zornigem Blick starrte Tertius sie an. »Du hast meine Idee gestohlen!«, beschuldigte er sie. »Wann hast du beschlossen, dich als Verräter zu verdingen?«
»Vor zwei Tagen«, erwiderte Septima stolz.
Tertius lachte triumphierend. »Dann kommst du zu spät. Ich habe schon vor drei Tagen beschlossen, dich zu verraten. In dem Moment, in dem ich das wertvollste Geheimnis des Wunders erfuhr.«
Entrüstet sprang Septima vom Boden auf. »Woher soll ich das wissen? Das könntest du dir jetzt ausgedacht haben. Auf jeden Fall macht dich das erst recht zum elenden Verräter.«
»Aber du hast doch gerade gesagt …«
»Wieso verfaulst du nicht und stirbst? Verräter …«
»Du disharmonische Masse von alter …«
Der Schlagabtausch wurde lauter und ungestümer und brachte einige recht anschauliche Handbewegungen mit sich.
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