Das Land des letzten Orakels
sie nun lauter. Dieses Mal trafen die Vibrationen sie im Bauch, und sie und ihre Freunde fielen zu Boden, während der ganze Raum erzitterte. Einer der Stalaktiten an der Decke zerbarst und fiel dicht am Steg entlang in die tiefe Felsspalte. Als er weit unten auf dem Boden aufprallte, zerbrach er mit einem donnernden Geräusch.
Noch außer Atem durch den Sturz, kroch Mark zu Lily hinüber. »Lily«, sagte er sanft. »Ich verstehe. Das tue ich wirklich. Das hier muss schrecklich für dich sein, aber … Wenn das Orakel wirklich unsere Fragen beantworten kann, sollten wir sie dann nicht auch stellen? Du hast sie jetzt gefunden; sie lebt und ist gesund. Mit der Zeit kannst du ihr die Erinnerungen zurückgeben …«
Lily seufzte und schaute hinauf zu Marks vertrauensvollen grauen Augen. Der Schmerz in ihr ließ ein wenig nach.
»Du hast recht«, sagte sie. »Ich hatte einen Grund hierherzukommen.«
Mark half ihr auf. Laud lächelte ermutigend. Nur Benedicta wirkte immer noch beunruhigt, als sie aufstand.
»Lily, bist du dir sicher?«, fragte sie. »Das war ein großer Schock für dich. Das Orakel läuft dir nicht weg …«
»Sie sucht schon so lange nach Antworten, Ben«, mahnte Mark. »Das tun wir alle. Ich hätte nichts dagegen, selbst auch ein paar Fragen zu stellen.«
»Aber meinst du nicht, dass du gerade eine Antwort bekommen hast, eine große?«, sagte Ben unbehaglich. »Vielleicht können wir zuerst diese verarbeiten …«
»Es ist schon gut, Ben«, sagte Lily leise. »Ich will es wissen. Ich muss es wissen.«
Ben runzelte die Stirn, schien nach wie vor nicht gänzlich überzeugt. Lily wandte sich wieder dem Orakel zu.
»Frage«, forderte das Orakel sie mit der ihr eigenen Geduld auf.
Lily versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, damit sie die richtigen Fragen stellen konnte. Trotz ihrer Verwirrung und ihres Schmerzes sprang nun auch ein Funke der Erregung über. Das hier war es. Es spielte keine Rolle, dass dieses Ding einmal ihre Mutter gewesen war. Sie, Lily, würde die Wahrheit erfahren. Die Wahrheit war das, was wirklich zählte. Es war das, was immer gezählt hatte.
Sie lächelte ihre Freunde an, doch diese wirkten nach wie vor leicht beunruhigt. Vielleicht war ihr Lächeln ein wenig zu breit. Lily bemerkte, dass sie stoßweise atmete. Doch darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken. Vor ihr lagen alle Geheimnisse der Welt ausgebreitet. Was sollte sie fragen?
Urplötzlich wusste sie es.
»Was steht im Mitternachts-Statut?«
Das Orakel räusperte sich. »Das Mitternachts-Statut«, fing sie an, als zitiere sie aus dem Dokument selbst. »Der Text beginnt: Hiermit kommen wir überein, dass die hier enthaltenen Informationen ausschließlich dem Waage-Bund zugänglich gemacht werden und alle Beteiligten bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Gegenspieler erscheint und damit der Abschluss des Experiments beginnt, diese Geheimnisse für sich behalten und sich einzig und allein dem Ziel verpflichten, für das Überleben von Agora und Giseth zu sorgen und das Gebilde so aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus wird festgelegt, dass diejenigen, deren Aufgabe es ist, über Gegenspieler und Protagonist zu wachen, ihnen bis zum Tag des Urteils mit voller Unterstützung des Bundes alles Wissen vorenthalten. Jede ernste Verletzung dieser Verfügung macht das Projekt null und nichtig und führt unweigerlich zu der Auflösung beider, wie unten aufgeführt. Weiterhin muss allen Bewohnern der ersten Phase deutlich gemacht werden, dass jeder Bewohner von Giseth und jeder Bürger von Agora die Pflicht hat, die Existenz der Außenwelt und ihre eigene Ankunft vor ihren Kindern geheim zu halten. Dadurch wird die Unantastbarkeit des Projekts gewährleistet, bis der Letzte gestürzt ist, und dann wird der volle Zweck des größten Experiments des Waage-Bundes erreicht werden können, zuversichtlich, dass die Wahrheit bis zum Tag des Urteils gewiss ist …«
»Projekt?«, unterbrach Mark. »Experiment? Was redest du da? Und warum sind wir ein Teil davon? Was sollen Protagonist und Gegenspieler denn tun ?«
Lily merkte, wie ihr das verzweifelte Lächeln auf den Lippen gefror. Irgendetwas stimmte hier nicht, stimmte überhaupt nicht. Sie erinnerte sich an Pauldron, jenen Eintreiber, der das Mitternachts-Statut gelesen hatte. Sie erinnerte sich an seine Phantasien, daran, dass er geglaubt hatte, die ganze Stadt, die ganze Welt wäre nicht real, wäre lediglich ein herrlicher Traum. Sie erinnerte sich, dass ihr Vater sie alle die
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