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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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so groß wie meine Faust und weiß, von Adern eines rosigen Minerals durchzogen und von den Jahren im Wasser glatt gerieben.
    In meinem abgehackten Tarekisch (ich musste der Sprache einen Namen geben) erklärte ich, dass dieser Stein ein Verbindungsglied zwischen diesem und dem Hexenland darstellte. Um ihn zu benutzen, musste man den Verstand trainieren: Disziplin. Als ersten Schritt lernte man, den Stein anzuschauen und an gar nichts anderes zu denken– überhaupt nichts –, eine ganze Minute lang, während man ein magisches Wort sang.
    »Wie lautet das Wort?«, fragte Tarek. Sein Tonfall blieb kühl, aber Ungeduld blitzte in seinen Augen auf.
    »Das Wort lautet George.«
    Wir brauchten fünf Minuten, bis ich erklärte, dass ich mit der Aussprache zufrieden war. Ich hatte das Wort absichtlich gewählt. Die Wilden hatten Schwierigkeiten mit der Aussprache von »dsch«. Fünf Minuten der Unterweisungszeit gingen dafür dahin.
    »Ich fange an«, sagte Tarek. »George, George…«
    »Ihr sagt es nicht im richtigen Rhythmus auf«, behauptete ich und klopfte mit den Fingern auf den Boden. »Magische Worte muss man genau artikulieren.«
    »Sprich es noch einmal vor.«
    Wieder fünf Minuten. Tarek zeigte keine Verärgerung. Disziplin.
    »Gut. Nun schaut den Stein an. Denkt nur an den Stein.«
    »George«, murmelte Tarek, »George, Geor…«
    »Ihr denkt an etwas anderes, nicht nur an den Stein.«
    Zum ersten Mal wirkte er überrascht. »Das weißt du?«
    »Ja.« Natürlich wusste ich das: Niemand kann eine ganze Minute lang nur an eine Sache denken. Andere Gedanken kommen unvermeidlich dazwischen.
    »Du kannst in meine Gedanken sehen?«
    »Nein. Ich weiß nur, dass Eure Gedanken nicht einzig auf den Stein gerichtet sind.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich bin eine Hexe.«
    Er nickte und fing wieder an, hinzustarren und zu murmeln. Immer wieder unterbrach ich ihn, um zu behaupten, seine Gedanken wären abgeschweift. Jedes Mal gab er es zu, ohne zornig zu werden. Meine Bewunderung für ihn wuchs.
    »Es reicht für heute Abend«, sagte Tarek schließlich. »Ich werde diesen Stein behalten.«
    »Nein. Er muss bei mir bleiben.«
    Er nickte, akzeptierte mein Urteil. Auf einmal wusste ich, was Antek bedeutete; jemand, der etwas sowohl Wertvolles als auch Schwieriges hervorbrachte. Verteidigung und Eroberung durch die Soldaten; Kinder durch die Mütter; Lernen durch die Anteks. Ein Antek herrschte in seinem eigenen Reich.
    Roger der Gelehrte.
    »Gute Nacht, mein Lord«, sagte ich.
    Er nahm den fremden Titel an. »Gute Nacht, Antek.«
    Zurück an unserem Feuer rutschte Tom dichter an mich und flüsterte: »Hast du es getan?«
    Tarek vergiftet, meinte er. Ich flüsterte: »Nein. George will, dass wir warten, bis wir ein Zeichen von ihm bekommen haben, dass unsere Retter in der Nähe sind. Für unsere Flucht, weißt du.«
    Er nickte. Jeder hier schien– anders als im Königinnenreich– mein Urteil hinzunehmen. Jeder außer mir. Mit meiner sinnlosen Unterweisung machte ich letzten Endes einen Narren aus dem Anführer einer großen Armee, der bereits Grund genug hatte, mich zu töten. Wie lange würde ich dieses Theater aufrechterhalten können?
    Die Antwort war: länger, als ich zu hoffen gewagt hatte. Perb hatte mir erzählt, dass wir Tareks Königreich– das Wort fühlte sich unnatürlich auf meiner Zunge an; Königinnen sollten herrschen und Männer verteidigen– in »zwei weiteren Zwölftagen« erreichen würden. Sechs Nächte lang hatte ich Tarek auf den weißen Stein mit den rosigen Adern starren und »George…« murmeln lassen. Ich unterbrach ihn immer wieder, um ihm mitzuteilen, dass seine Gedanken abschweiften, und stellte damit sicher, dass seine Gedanken auch wirklich abschweiften. Die Tagesmärsche verkürzten sich, als das Gelände rauer wurde. Das Wetter wurde noch kälter. Am Morgen lag immer Frost auf dem Boden, auf dem Zelt der Prinzessin, auf uns. Ich träumte jede Nacht von Maggie, die mit meinem Kind schwanger war. Häufig erwachte ich mit gefrorenen Tränen auf dem Gesicht. Mein Vater brachte keine Rettung.
    »George lässt sich ganz schön Zeit damit, zu uns zu kommen«, murrte Tom.
    »George, George«, murmelte Tarek, und dann, in der siebten Nacht: »Ich glaube, ich habe es geschafft, Antek. Eine ganze Minute lang.«
    »Ja, das habt Ihr.« Der warnende Blick seiner blauen Augen besagte, dass ich mit meiner Unterweisung fortfahren musste. Und vielleicht hatte er es tatsächlich zustande gebracht, seine

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