Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
nicht tot war, sicher würde das nicht denselben Aufruhr verursachen, wie jemanden zurückzubringen, der ins Land der Toten gehörte? »Aber dann würde ich euch dorthin zurückbringen, wo mein Körper ist.«
»Du meinst zu Tarek?«
»Ja.«
Darauf kaute er eine Weile herum, dann stieß er hervor: »Nun, von meinem Standpunkt aus hast du das nicht sehr sorgfältig durchdacht.«
»Ich habe es überhaupt nicht durchdacht! Die Wilden wollten uns alle erschießen, also habe ich einfach gehandelt.«
»George hätte alles besser arrangiert.«
»Da bin ich sicher«, sagte ich matt.
»Was machen wir also jetzt?«
Jee sagte: »Wir dürfen nicht auf der anderen Seite ins Königinnenreich reisen.«
Er war an meine Seite getreten, ohne dass ich ihn gehört hatte, und Stephanie mit ihm. Die Augen der Prinzessin blickten noch wild umher, aber sie hielt Jees Hand ganz fest, die Schulter hatte sie an ihn gedrückt. Offenbar hatte das, was er zu ihr gesagt hatte, ihn zu ihrem Beschützer gemacht. Der stille Jee! Aber was das anging, würde er vermutlich einen besseren Aufpasser für das kleine Mädchen abgeben, als ich es bisher gewesen war. Er konnte es kaum schlechter machen.
Tom sagte verärgert– er mochte es nicht, von einem Jungen geistig übertrumpft zu werden: »Warum dürfen wir nicht ins Königinnenreich reisen, Jee?«
»Wir sind nicht im Königinnenreich. Wir sind in den Bergen. Und bei den Lebenden ist es bald Winter. Wir haben nur zwei Umhänge, und ich habe Maggies zwei Messer. Wir haben kein Geld. Nicht genug.«
Jee hatte recht. Wenn wir reisten, musste es hier sein. Und doch, wenn ich sie über die Westlichen Berge zurückbrachte, während wir im Land der Toten waren, zurück dorthin, wo die Grenze des Königinnenreichs im Land der Lebenden begann, was würde es uns helfen? In dem Augenblick, in dem ich vom Pfad der Seelen zurückkehrte, würden wir alle wieder dort sein, wo mein Körper geblieben war. Wenn man davon ausging, dass mein Körper noch lebte.
Tom warf ein: »Aber wenn wir im Land der Lebenden reisen, könnten wir zumindest etwas zu essen finden. Was können wir hier essen? Ich sehe nichts.«
Da hatte er recht. Es gab nichts Essbares im Land der Toten, wo niemand je aß.
Tom blickte mich an. »Pe…Roger, was tun wir jetzt?«
»Lass mich nachdenken!«
Die drei starrten mich an, was meinen Gedanken nicht auf die Sprünge half. Aber es gab ohnehin nur einen Weg, der mir offenstand. Ich stand auf.
»Wir machen eine Tagesreise auf das Königinnenreich zu. Das ist der erste Schritt. Tom, kannst du Ihre Gnaden tragen, wenn es nötig ist?«
»Natürlich. Aber was werden wir dann…«
»Wir marschieren einen Tag lang in Richtung Königinnenreich.« Ich versuchte, so entschlossen wie möglich zu klingen. Schließlich nickte Tom. Obwohl er sich wünschte, ich wäre George, vertraute mir Tom.
Ich wünschte, ich würde mir selbst vertrauen.
Jee schnitt das Seil zwischen Toms Knöcheln durch und wir brachen auf, Stephanie zwischen Jee und mir. Sie klammerte sich an unseren beiden Händen fest. Leise, ängstlich anfangs, gingen drei Lebende und ein Hisaf durch das Land der Toten.
Nur dünne Nebelschwaden verschleierten die Landschaft. Der Himmel, niedrig und immer gleich und grau, gab sein stetes, blasses Licht ab. Weder Bäume noch Gras, Gebüsch oder die blassen Wildblumen regten sich in einer Brise. Es gab keine Brise. Im Osten ragten die Berge auf, die Tareks Armee im Land der Lebenden gerade erst bewältigt hatte; im Westen lag irgendwo das Tal seines Königreichs. Und überall saßen oder lagen die Toten. Es gab so hoch in den Bergen, wo nur wenige gelebt hatten, nicht sehr viele davon. Aber es waren genug. Einen Jäger. Zwei Soldaten. Eine ganze Familie, die vielleicht eine Weile hier gelebt hatte; ihre Tode lagen Jahrzehnte auseinander, aber schließlich hatten hier alle zusammengefunden. Stephanie spähte auf ein Kind, das still auf dem Gras lag und in den Himmel schaute, und ihre Hand packte die meine fester.
Tom fing an zu singen.
Ich fuhr ihn beinahe an, hielt mich aber noch zurück. Ich hatte die Toten gesehen, war zwischen ihnen gewandelt, mein ganzes Leben lang. Tom nicht. Sein Gesicht war aschfahl, mit Schweißtropfen auf der Stirn und der Oberlippe. Er konnte nichts gegen die unheimliche Ruhe der Toten tun, aber er konnte zumindest die unheimliche Stille durchbrechen. »Oh, eine Dame ritt einher«, sang er, bei den hohen Tönen zitternd, »an einem Sommertag…«
Und so
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