Das Land jenseits des Waldes, Band I
eigenen großen Küche, eigenen Sanitäranlagen und eigenen Aufenthaltsräumen. Für ein jedes dieser Häuser war ein Lehrer oder Erzieher als Hausvorstand verantwortlich. Die ursprüngliche Bezeichnung Hausvater war vor einigen Jahren gestrichen worden, das klang dem Stiftungsrat dann doch ein ganz klein wenig zu sehr nach ordinärer Jugendherberge. Der Hausvorstand bestimmte unter den Schülern seines Hauses dann einen geeigneten Haussprecher , dem er danach je nach persönlicher Eignung des Betreffenden mehr oder auch weniger seiner eigenen Aufgaben delegieren konnte und der bei Abwesenheit des Hausvorstands auch als dessen Vertreter fungierte.
Zu den heutigen Aufgaben von Phillip gehörte daher beispielsweise, den Neuen oben bei Frau Professor Wechselberger im Büro abzuholen und ihn dann hinunter auf sein Zimmer ins Haus Nummer Fünf zu bringen.
Phillip. Schwarze, scheinbar mit ganz besonders harten Steinen verwaschene bleichgefleckte Jeans, unten hochgekrempelt, schwarzes verknittertes T-Shirt unter dem offenen Reißverschluss einer schon sehr dunkelbraunen leichten kragenlosen Strickjacke, ungeputzte schwarze Turnschuhe mit drei weißen Streifen und reichlich Dreckrändern, schwarze Socken. Ungekämmte strähnige Haare fallen ihm rotblond von der Stirn bis auf seine abgerundet dreieckige Brille hinunter.
Für einen kurzen Augenblick vergaß Knars seine Erschöpfung und stand wieder auf. »Hi. Ich bin Konstantin«, sagte er.
Phillip reichte ihm höflich die Hand. »Phillip, Haus fünf.«
Als Knars sich anschickte, seine überladene asics Tasche zu schultern, winkte Phillip ab. »Komm, lass mich die mal schleppen. Dieser Service ist im Preis hier mit drin.«
Dann gingen sie beide schweigend den Korridor hinunter in Richtung Treppenhaus. Knars schon wieder etwas fitter als vorher. Phillip bereits nach kurzer Zeit schwer keuchend. »Hast du Felsbrocken da drin?« fragte er schnaufend. »Oder etwa die Reste einer in kleine Teile zerstückelten Leiche?«
»Nö. Bloß die letzten Reste aus meinem bisherigen Leben«, antwortete Knars wahrheitsgemäß und bemühte sich dabei ernst und traurig dreinzuschauen.
Während des weiteren Weges sprachen sie nicht mehr. Nicht, dass es unbedingt so gewollt gewesen wäre. Das nicht. Aber es ergab sich einfach nicht.
Haus Nummer Fünf lag im westlichen Flügel von Schloss Lohenmuld. Hochparterre und durch die Hanglage damit eine Etage tiefer als das Direktionsbüro aber dadurch eben auch gerade nicht im Untergeschoss. Eine durch Stahlstreben bruchsicher gemachte Glastür verwehrte den Weitergang. Von innen war ein Blatt Papier, auf dem mit einem breiten schwarzen Filzstift in römischer Ziffer die Nummer V geschrieben war, an die Tür geklebt.
Phillip drückte einfach direkt auf die Tür, es knackste und sie ließ sich ohne weitere Probleme öffnen.
»Du musst dir hier ganz dringend ein Paar lockerere Schuhe zulegen«, sagte er dann, als sie beide die Türschwelle passierten. »So ein elegantes Outfit ist hier höchstens zweimal im Monat angemessen und bei deiner Hose hier überhaupt niemals.«
Knars nickte. Ok. Verdreckte Turnschuhe zur ausgebleichten Jeans waren in Ordnung. Saubere schwarze Lederschuhe zum Freizeitoutfit ganz offenbar nicht passend. Lohenmulder Logik. Angemessenes äußeres Erscheinungsbild zu den verschiedenen Anlässen . Fast wünschte er sich, er hätte seinerseits seine verschlammten Joggingschuhe nicht vorher draußen am Hauptportal abgestellt.
»Da war ganz einfach höhere Gewalt im Spiel heute Nachmittag«, versuchte er dann Phillip zu erklären, doch dieser runzelte ebenso nur seine Stirn wie es vorher unten im Labor Lars getan hatte.
Das Haus V bestand im Grunde aus einem langen Gang mit den verschiedenen Zimmern auf beiden Seiten. Ganz hinten hatte der Hausvorstand sein Büro.
05023
Herr Oliver Trietz, M.A.
Hausvorstand
stand hinter Glas an einer kleinen Tafel rechts neben der Tür in aufgeklebten kleinen schwarzen Buchstaben in amtlich korrekter Schrift zu lesen. Auf der Tür selbst war dagegen ein großes Blatt Papier angebracht. In schwungvoller Schreibschrift verkündigte es fast schon melodisch:
MAÎTRE D’ MAISON V
Phillip grinste. »Hört sich doch gleich nach was ganz anderem an. Auf französisch. Oder? Musst du dir merken: Immer, wenn du etwas total Versautes sagen oder etwas durch und durch Verdorbenes tun willst, dann mach es einfach wie die Franzosen, dann ist es stets die pure Poesie.«
Ehe Knars noch
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