Das Land zwischen den Meeren
Anlass standesgemäß angezogen war. Fast tat es ihr leid, sich von den zwei Kleidern trennen zu müssen, die sie in den beiden zurückliegenden Jahren im Wechsel getragen hatte. Aber sie gehörten zu ihrer Vergangenheit, und die hatte sie mit der Hochzeit endgültig hinter sich gelassen. Ebenso wie das Herzmedaillon, das seither ganz zuunterst in ihrer Kleidertruhe ruhte.
Im Theaterfoyer, das mit seinen Marmorsäulen und prachtvollen Lüstern auch in Deutschland oder Frankreich Eindruck gemacht hätte, begegneten Antonio und Dorothea etliche Besucher, die auch Hochzeitsgäste gewesen waren. An manche Gesichter erinnerte sich Dorothea, wenngleich sie sich nicht alle Namen hatte merken können. Man plauderte über das unvergessliche Fest auf der Hacienda Margarita, die Affäre eines hohen Finanzbeamten mit einer chilenischen Tänzerin und den ganz und gar utopisch anmutenden Plan einer Gruppe offenbar größenwahnsinniger Ingenieure, eines Tages eine Bahnlinie von der Hauptstadt quer durch den Dschungel bis zur Karibikküste zu bauen. Was den Warenexport nach Europa um theoretisch zwei bis drei Monate verkürzen würde, jedoch undurchführbar schien.
»Sind die beiden nicht ein schönes Paar?«, hörte Dorothea eine männliche Stimme hinter ihrem Rücken raunen.
»Als Kaffeefarmer hätte er aber keine Zugereiste nehmen dürfen«, antwortete eine weibliche Flüsterstimme. Dorothea wandte sich vorsichtig um und überlegte, ob diese Frau wohl die anonyme Briefschreiberin gewesen sein könnte. Aber dann war sie sich sicher, jenes teigige Gesicht mit dem Feuermal auf der linken Wange nicht bei ihrer Hochzeit gesehen zu haben. Denn daran hätte sie sich auf jeden Fall erinnert. Also beschloss sie, solches Gerede nicht allzu ernst zu nehmen.
Außerdem wäre auch in Deutschland die Reaktion eine ähnliche gewesen, hätte sie dort einen ausländischen Mann geheiratet. Erst recht in Köln, wo jemand, der nur aus einem anderen Stadtteil stammte, schon misstrauisch als Fremder beäugt wurde. So beschloss sie, sich ganz auf die Geschichte des Winzermädchens Giselle zu konzentrieren, und genoss die Aufführung in vollen Zügen.
Antonio hatte die ganze Mittelloge nur für sie beide reserviert. Sie bewunderte den graziösen Spitzentanz der Ballerinen, die kraftvollen, hohen Sprünge der Tänzer, litt mit Giselle, die um ihre Liebe kämpfte und schließlich an gebrochenem Herzen starb. Als sie einmal zur Seite blickte, bemerkte sie Tränen in Antonios Augen, die er sich schnell und verstohlen wegwischte. Dorothea drückte seine Hand, war freudig überrascht, einen Ehemann zu haben, der so gefühlvoll sein konnte.
Als nach dem letzten Akt das Licht wieder anging und das Publikum den Tänzern applaudierte, fiel Dorothea auf, dass mehrere Operngläser nicht nur auf die Bühne, sondern auch auf ihre Loge gerichtet waren. Es war ihr nicht sonderlich behaglich, so ungeniert beobachtet zu werden. Doch mit Antonio an der Seite stand sie jede unangenehme Situation durch. Außerdem ließe die Neugierde der Leute sicherlich nach, wenn sie sich erst einmal an sie gewöhnt hatten.
Tagsüber, wenn Antonio in seinem Dienstzimmer im Verwaltungsgebäude saß oder einen Ausritt unternahm, erkundete Dorothea die Plantage zu Fuß. Auf den Feldern waren zahlreiche Männer mit der Aufzucht von Sprösslingen, dem Umpflanzen von Jungpflanzen oder dem Beschneiden der Kaffeesträucher beschäftigt. Diese wurden etwa mannshoch beschnitten, damit die Pflücker die Kirschen ohne Leiter ernten konnten. In einem der Lagerhäuser waren Arbeiter mit dem Ausbessern der schweren Holzräder für die Ochsenkarren beschäftigt, mit denen die geernteten Kaffeebohnen aus dem Hochland zur Pazifikküste transportiert wurden. Für die Hacienda Margarita war ein Dutzend Ochsengespanne im Einsatz. Mehr als für jede andere Kaffeeplantage im Valle Central.
Die Wasserbecken, in denen die Kaffeekirschen nach dem Pflücken von Ästen, Blättern und Steinchen befreit wurden, mussten gereinigt und für die kommende Saison vorbereitet werden. Aus der Mühle war das rhythmische Geräusch von Hammerschlägen zu hören. Vermutlich wurde gerade das neue Mühlrad installiert, von dem Pedro und Antonio vor Kurzem gesprochen hatten. Neben den Schlafhäusern für die Bediensteten lagen einfache Hütten mit Dächern aus Palmstroh, die zu dieser Jahreszeit leer standen, in denen aber von Anfang Dezember bis Mitte Februar auf engstem Raum viele Pflücker und Pflückerinnen leben würden,
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