Das Land zwischen den Meeren
Luft. Mit welchem Recht mischte ihre Schwiegermutter sich plötzlich in ihre privatesten und intimsten Angelegenheiten ein? Sollte sie ihren Sohn doch fragen, warum er ihnen noch nicht mehr Enkel beschert hatte! Und es vermutlich auch in Zukunft nicht tun würde. Wie sollte sie in dieser Situation Haltung bewahren und dabei gleichzeitig Antonio schützen? Denn niemand durfte vom Zustand ihrer Ehe erfahren. Niemand brauchte zu wissen, dass Antonio sie hintergangen hatte. Warum er sie hintergangen hatte. Und wie. Das ging nur sie beide etwas an. Sie kämpfte gegen ihre widerstrebenden Gefühle an, versuchte, einen gemäßigteren Ton anzuschlagen. Denn schließlich wollte sie sich Isabel nicht zur Feindin machen.
»Du weißt, Schwiegermutter, wir Menschen haben nicht die Macht, das Schicksal zu beeinflussen. Ich selbst bin ohne Geschwister aufgewachsen. Wie auch Antonio. Trotzdem ist er ein beneidenswert glücklicher Mensch, der seine Eltern hoch achtet.«
Diese Worte zeigten Wirkung. Isabel verstummte augenblicklich, kauerte in sich zusammengesunken wie ein Häuflein Elend auf ihrem Stuhl. Irgendwann reckte sie den Hals, redete leise weiter, flüsterte fast.
»Du hast recht, Dorothea, der Mensch muss sich dem Willen des Allmächtigen fügen. Und trotzdem …« Ihre Unterlippe zitterte. »Unsere Situation ist nicht vergleichbar. Ich jedenfalls hätte mir mehrere Kinder gewünscht. Bei Antonios Geburt wäre ich beinahe gestorben. Es dauerte zwei Jahre, bis ich mich wieder erholt hatte. Damals sagte uns der Arzt, ich dürfe keine Kinder mehr bekommen, wenn mir mein Leben lieb sei …«
Isabel sah auf einmal sehr alt und sehr müde aus. Ihre Lider mit der bläulich dünnen Haut und den feinen Falten zuckten, eine Träne rann ihr über die Wange. Dorothea ergriff ihre Hand und drückte sie sanft.
»Das wusste ich nicht. Es tut mir leid für dich – und für deinen Mann.« Mit einem Mal begriff sie, warum Isabel so zerbrechlich und verzagt wirkte. Was der Grund für die ewig traurigen Augen und die herabgezogenen Mundwinkel war. Ahnte, was ihr Schwiegervater Pedro trieb, wenn er für Stunden oder Tage aus dem Haus war, ohne anzukündigen, wohin er ritt. Wusste plötzlich, weshalb die Schwiegermutter sich dann mit Kopfschmerzen in ihr Zimmer zurückzog. Und wie Isabel gelitten haben musste, seitdem Antonio auf der Welt war. Weil sie nur noch Mutter sein konnte – aber nicht mehr Ehefrau.
So wie sie selbst. Wenn auch aus einem anderen Grund … Dorothea schwankte zwischen Mitleid und Mutlosigkeit. Gern hätte sie Isabel getröstet, obwohl auch sie des Zuspruchs bedurfte. Doch das brauchte die Schwiegermutter nicht zu wissen.
Ein klägliches Weinen tönte durch den Park. Olivia war von der Schaukel gefallen und hielt sich das linke Knie. Das arme Kind! Hoffentlich ist nichts gebrochen, war Dorotheas erster Gedanke. Sie sprang auf, um zu ihrer Tochter zu eilen, doch Isabel hielt sie am Ärmel fest. Ihr Blick war ein einziges Flehen.
»Bitte, sag es mir ganz ehrlich, Dorothea! Liebst du Antonio noch?«
»Nicht weniger, als er mich liebt«, stieß sie schroff hervor und riss sich los, rannte über den weichen, kurz geschorenen Rasen zu Olivia und ging vor ihr in die Hocke. Rieb das Kinderknie zwischen den Händen, pustete kräftig und küsste die Stelle, an der die zarte Haut leicht abgeschürft war. Sang betont klar und fröhlich: »Heile, heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Sonnenschein, bald wird’s wieder besser sein.« Sie nahm die schluchzende Tochter in die Arme und vergrub ihr Gesicht in dem rosafarbenen Kleidchen, damit das Kind nicht sah, dass die Mutter Tränen in den Augen hatte.
»Du isst überhaupt nichts, Dorothea. Offenbar schmeckt dir nicht, was bei uns auf den Tisch kommt.« Pedros Brauen hoben sich missbilligend. Er leerte seinen Teller bis zum letzten Bissen und wischte sich mit der blütenweißen Damastserviette den Mund ab.
»Aber nein, Schwiegervater, ich esse sehr wohl, und es schmeckt mir ausgezeichnet. Manuela ist eine hervorragende Köchin. Allein für ihre fleischgefüllten Empanadas hätte sie einen Orden verdient.«
Pedro spülte mit mehreren Schlucken Rotwein nach. Es war bereits sein drittes Glas an diesem Abend. Auf seiner Stirn hatte sich eine unheilvolle Falte gebildet, ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf die Tischdecke. »Und warum siehst du dann aus wie ein stoffbezogenes Gerippe? Sieh dir einmal unsere costaricanischen Frauen an. Die haben runde Hüften, volle
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