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Das lange Lied eines Lebens

Das lange Lied eines Lebens

Titel: Das lange Lied eines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Levy
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seitlich neben Robert Goodwin stand.
    Caroline jedoch beharrte sehr laut: »Sie kann da nicht stehen!«
    »Warum denn nicht?«, fragte ihr Mann.
    Caroline, die keine einleuchtenden Argumente vorzubringen wusste – denn was ihren Protest ausgelöst hatte, war nur ein unangenehmes Gefühl im Bauch –, sah hilfesuchend den Künstler an. Daraufhin entschied dieser, Aufbau und Ausgewogenheit des Bildes würden dadurch gewinnen, dass die Negerin vor Caroline niederkniete und ihr ein Tablett mit einem Sortiment Zuckerwerk anböte. Und oh, wie Caroline Goodwin bei diesem Vorschlag begeistert in die Hände klatschte. »Ja, ja, ja!«, rief sie.
    So ist July jetzt auf dem Bild neben ihrer Missus zu sehen, wie sie ein Knie vor ihr beugt und das Tablett darbietet, das sie trägt. Und obwohl der Künstler verlangt hatte, dass July, einen Ausdruck gehorsamer Verehrung im Gesicht, zu ihrer Missus aufblicken sollte, gelingt es July, das Auge des Betrachters mit einer verschmitzten Miene auf sich zu lenken, die eindeutig besagt: »Nun, was halten Sie davon? Bin ich nicht die schönste Negerin, die Sie je gesehen haben?«
    Diese Pose brachte July jedoch in arge Bedrängnis, denn sie konnte in dieser sklavischen Haltung nicht lange ausharren. Zunächst begann ihr gebeugtes Knie zu kribbeln. Nicht lange danach bekam sie ein taubes Gefühl in den Beinen. Nach ein paar Minuten dieser vermaledeiten Gefühllosigkeit überkam sie ein so scharfer Schmerz, als grübe ein Hund seine Zähne tief
in ihre Oberschenkel. Nur indem sie sich aus der gebückten Haltung aufrichtete und fest mit den Füßen aufstampfte, konnte sie sich Linderung verschaffen. Doch jedes Mal, wenn July sich gezwungen sah, diesen therapeutischen Tanz auszuführen, schaute der Künstler hinter seiner Leinwand hervor und stieß einen tiefen, klagenden Seufzer aus. Und Caroline schimpfte: »Halt still! Halt still! Hör auf, dich zu bewegen!«
    Obwohl July sehr wohl in der Lage war, ihre Missus mit einem Blick abzufertigen, der besagte: »Versuch du doch mal, dich mit deinem fetten weißen Arsch Stund um Stund um Stund so runterzubeugen, ha!«, so hatte sie das gar nicht nötig. Denn ein ängstlicher Blick – oder auch nur die Andeutung eines solchen – in Richtung ihres Mr Goodwin … ihres großen, großen Mannes mit den blauen Augen … ihres süßen, süßen Massas reichte aus, dass er sie mit herrischem Ton verteidigte: »Siehst du nicht, dass es schmerzhaft für sie ist, so lange die Position zu halten, Caroline?«
    »Aber mit ihrer ständigen Zappelei zieht sie die Schwierigkeiten nur in die Länge. Ich kann doch auch stillhalten.«
    »Du sitzt bequem. Wenn Miss July so bequem säße wie du, hätte ich keinen Zweifel, dass sie ebenso unbeweglich wäre.«
    »Schlägst du etwa vor, dass die Negerin auf diesem Bild sitzen soll?«
    »Ich sage doch nur, Caroline, wenn man Miss July neben mir hätte stehen lassen, statt sie zu dieser lächerlichen Pose zu zwingen, könnte sie die Stellung länger aushalten, ohne dabei steif zu werden und Schmerzen zu haben.«
    »Aber Robert, es war Mr Bears Idee, dass sie so Modell stehen soll – nicht meine …«
    Und so weiter und so fort. Diese heftigen Auseinandersetzungen brachen nicht jedes Mal aus, wenn July sich bewegte, aber doch häufig genug, dass der Künstler die Augen verdrehte und erschöpft den Kopf in die Hände stützte, solange der übellaunige Streit andauerte, und unsere July, als sie das nächste Mal
allein waren, die Arme um Mr Goodwins Hals schlang und ihm dafür, dass er der Missus nicht erlaubt hatte, unverschämt zu ihr zu sein, hundert Küsse auf die Wange drückte.
    »Mein Mann« war Julys bevorzugter Name für Robert Goodwin – und jedes Mal wenn sie sagte: »Komm, setz dich hin, mein Mann … fang an zu essen, mein Mann … oh, sei jetzt still, mein Mann«, antwortete er gehorsam, indem er sie »meine Frau« nannte. »Du bist meine wahre Frau«, sagte er ihr. »Das hier ist mein wahres Zuhause«, sagte er über ihr feuchtes kleines Zimmerchen unterm Haus. Was würde passieren, wenn er sie nicht jeden Nachmittag nach dem Signal des Muschelhorns antreffen würde, wie sie auf ihn wartet?, hatte July wissen wollen. Würde er nach ihr suchen? Das würde er ganz bestimmt, antwortete er ihr. Würde er weinen? »Buhuhu«, hatte er erwidert.
    Also versteckte July sich einmal. Sie zündete keine Kerze an und kauerte sich hinter einem Stuhl in die dunkle Ecke. Er kam herein, um nach ihr zu suchen, eifrig wie ein

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