Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Dampfend trat er ans Küchenfenster, eines seiner beiden Handtücher um die Hüfte geschlungen. Er machte Liegestütze und Sit-ups, während der Herdkocher blubberte; Perdu spülte seine einzige Tasse aus und goss sich den schwarzen Kaffee ein.
Der Sommer war tatsächlich letzte Nacht über Paris gestürzt.
Teeglaswarme Luft.
Hatte sie den Brief in seinen Briefkasten gesteckt? So wie er sich aufgeführt hatte, wollte Catherine ihn vermutlich nie wieder sehen.
Auf baren Sohlen, das Handtuch am Knoten festhaltend, lief Perdu durch das stille Treppenhaus zu den Postkästen.
»Hören Sie mal, so geht das aber ni… ach, Sie sind das?«
Madame Rosalette lugte, angetan mit einem Hausmantel, aus ihrer Loge. Er spürte ihren Blick über seine Haut, seine Muskeln, das Handtuch gleiten. Das war irgendwie geschrumpft, fand er.
Perdu fand auch, dass Rosalette wirklich ein bisschen zu lange guckte. Und nickte sie etwa zufrieden?
Mit heißen Wangen hastete er nach oben.
Als er seiner Tür näher kam, bemerkte er etwas, was dort vorhin nicht gewesen war.
Er hatte eine Nachricht.
Ungeduldig faltete er das Papier auf. Der Handtuchknoten löste sich, das Frottee fiel auf den Boden. Monsieur Perdu bemerkte seine Nacktheit jedoch nicht, die er dem Treppenhaus präsentierte, sondern las mit zunehmender Verärgerung:
Lieber J.,
kommen Sie heute Abend zu mir zum Essen. Sie werden den Brief lesen. Das müssen Sie mir versprechen. Sonst gebe ich ihn Ihnen nicht. Tut mir nicht leid. – Catherine.
PS: Bringen Sie sich einen Teller mit. Können Sie kochen? Ich nicht.
Während er sich maßlos ärgerte, passierte etwas Ungeheuerliches.
Sein linker Mundwinkel zuckte.
Und dann … lachte er.
Halb lachend, halb fassungslos murmelte er: »Bringen Sie einen Teller. Lesen Sie den Brief. Nie wollen Sie etwas, Perdu. Versprechen Sie das. Stirb vor mir. Versprich es!«
Versprechen, alle Frauen wollten immer Versprechen.
»Ich verspreche nichts mehr, nie mehr!«
Das rief er in das leere Treppenhaus, nackt und plötzlich zornig.
Die Antwort war unbeeindruckte Stille.
Wütend warf er die Tür hinter sich zu und freute sich an dem Lärm. Er hoffte, dass er mit dem wuchtigen Knall alle aus ihren warmen Betten geworfen hatte.
Dann öffnete er die Tür noch einmal und sammelte leicht beschämt sein Handtuch ein.
Rrumms, ein zweiter Türknall.
Jetzt dürften sie alle senkrecht im Bett sitzen.
Als Monsieur Perdu die Rue Montagnard mit schnellen Schritten entlanglief, war ihm, als ob er die Häuser ohne Fassaden sähe. Wie Puppenhäuser an der vierten Wand offen.
Er kannte jede Bibliothek in jedem Haus. Schließlich hatte er sie zusammengestellt, Jahr um Jahr.
In No. 14: Clarissa Menepeche. Welch zarte Seele in einem schweren Körper! Sie liebte die Kriegerin Brienne im Lied von Eis und Feuer.
Hinter der Gardine von No. 2: Arnaud Silette, der gern in den 1920er Jahren leben wollte. In Berlin. Als Künstlerin.
Und gegenüber, in der No. 5, mit linealgeradem Rücken an ihrem Laptop: die Übersetzerin Nadira del Pappas. Sie liebte historische Romane, in denen sich Frauen als Männer verkleideten und über ihre Möglichkeiten hinauswuchsen.
Und darüber? Keine Bücher mehr. Alle verschenkt.
Perdu hielt inne und sah zu der Fassade von No. 5 empor.
Die zweiundachtzigjährige Witwe Margot. Einst verliebt in einen deutschen Soldaten, der so alt gewesen war wie sie, als der Krieg ihnen die Jugend raubte – sechzehn. Wie er sie lieben wollte, bevor er zurück in die Gräben ging! Er wusste, dass er dort nicht überleben würde; wie sie sich schämte, sich vor ihm auszuziehen … wie sie noch heute wünschte, sich nicht geschämt zu haben! Margot bedauerte die verpasste Chance seit siebenundsechzig Jahren. Je älter sie wurde, desto mehr schrumpfte ihre Erinnerung auf diesen Nachmittag zusammen, an dem der Junge und sie nebeneinanderlagen, zitternd, und sich an den Händen hielten.
Ich sehe, dass ich alt geworden bin und es nicht bemerkt habe. Wie die Zeit vergeht. Die verdammte, verlorene Zeit.
Ich habe Angst, Manon, dass ich etwas furchtbar Dummes getan habe.
Ich bin so alt geworden, in nur einer Nacht, und du fehlst mir.
Ich fehle mir.
Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.
Monsieur Perdu ging langsam weiter. Am Schaufenster der Weinhändlerin Liona blieb er stehen. Da, im Spiegel des Glases. Das war er? Der große Mann mit der biederen Kleidung, mit diesem ungebrauchten, unberührten Körper, der so geduckt ging, als wolle er
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