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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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legte. Und auch jeden Tag, wenn er erwachte.
    Er hasste dieses Aufwachen in ein Leben ohne sie.
    Das Bett zerschlug er damals als Erstes, dann die Regale, die Fußbank, er zerschnitt die Teppiche, verbrannte die Bilder, verwüstete das Zimmer. Er gab alle Kleidung fort, er verschenkte alle Platten.
    Nur die Bücher, aus denen er ihr vorgelesen hatte, die behielt er. Jeden Abend hatte er gelesen, lauter Verse, Szenen, Kapitel, Kolumnen, kleine Fragmente aus Biografien und Sachbüchern, Ringelnatz’ Kindergebetchen (oh, wie sie das liebte, das Zwiebelchen ), damit sie einschlafen konnte in der ihr so unheimlichen, kargen Welt, dem kalten Norden mit seinen gefrorenen Nordländern. Er hatte es nicht über sich gebracht, diese Bücher fortzuwerfen.
    Er hatte das Lavendelzimmer mit ihnen zugemauert.
    Doch es hörte nicht auf.
    Es hörte verdammt noch mal nicht auf, das Fehlen.
    Er hatte es nur verkraften können, indem er begann, das Leben zu vermeiden. Er hatte das Lieben zusammen mit dem Fehlen ganz tief in sich eingeschlossen.
    Doch jetzt überwältigte es ihn mit immenser Kraft.
    Monsieur Perdu wankte ins Bad und hielt seinen Kopf unter eisig kaltes Wasser.
    Er hasste Catherine, er hasste ihren vermaledeiten, untreuen, grausamen Mann.
    Warum musste Le P.-Blödarsch sie gerade jetzt verlassen und ihr nicht einmal einen Küchentisch mitgeben? Dieser Idiot!
    Er hasste die Concierge und Madame Bernard und Jordan, die Gulliver, alle – ja, alle.
    Er hasste Manon.
    Er riss mit platschnassem Haar die Tür auf. Wenn diese Madame Catherine es wollte, dann würde er eben sagen: »Ja, verflucht, das ist mein Brief! Ich habe ihn aber damals nicht öffnen wollen. Aus Stolz. Aus Überzeugung.«
    Und jeder Fehler war sinnvoll, wenn man ihn aus Überzeugung tat.
    Er hatte den Brief lesen wollen, wenn er dafür bereit war. Nach einem Jahr. Oder zweien.
    Er hatte es nicht geplant, zwanzig Jahre zu warten und darüber fünfzig Jahre alt und seltsam zu werden.
    Manons Brief damals nicht zu öffnen war doch die einzig mögliche Notwehr gewesen. Sich ihren Rechtfertigungen zu verweigern, die einzige Waffe, die er gehabt hatte.
    Jawohl.
    Wer verlassen wurde, musste durch Schweigen antworten. Er durfte dem, der ging, nichts mehr geben, musste sich verschließen, so, wie der andere sich einer Zukunft verschloss, ja, genauso war das.
    »Nein, nein, nein!«, rief Perdu, daran stimmte etwas nicht, er spürte es, nur was? Es machte ihn verrückt.
    Monsieur Perdu schritt zur gegenüberliegenden Tür.
    Und klingelte.
    Und klopfte und klingelte nach angemessener Zeit erneut, so lange, wie ein normaler Mensch brauchte, um aus der Dusche zu kommen, sich das Wasser aus den Ohren zu schütteln.
    Warum war Catherine nicht da? Eben war sie doch noch da.
    Er lief in seine Wohnung, riss aus dem nächstbesten Buch von den Büchertürmen die erste Seite heraus, kritzelte darauf:

Ich möchte Sie bitten, mir den Brief zu bringen, ganz gleich, wie spät es ist. Bitte lesen Sie ihn nicht. Verzeihen Sie die Umstände, mit Grüßen, Perdu.

    Er starrte auf seine Unterschrift und fragte sich, ob er es jemals schaffen würde, seinen Vornamen zu denken.
    Denn wenn er ihn dachte, dann hörte er auch Manons Stimme. Wie sie seinen Namen seufzen konnte. Und lachen. Flüstern, oh, flüstern.
    Er quetschte seine Initiale zwischen »Grüßen« und »Perdu«: J.
    J wie Jean.
    Er faltete das Papier in der Mitte und befestigte es mit einem Stück Klebeband auf Augenhöhe an Catherines Tür.
    Der Brief. Es würden so oder so diese hilflosen Erklärungen sein, die Frauen ihren Liebhabern geben, wenn sie genug haben. Es gab keinen Grund, sich deswegen aufzuregen.
    Nein, sicher nicht.
    Dann ging er zurück in seine leere Wohnung, um zu warten.
    Monsieur Perdu kam sich unfassbar allein vor, wie ein dummes, kleines Ruderboot auf dem belustigen, spöttischen Meer – ohne Segel, ohne Ruder, ohne Namen.

9
    A ls die Nacht floh und Paris dem Samstagmorgen überließ, richtete sich Monsieur Perdu mit Schmerzen im Rücken auf, nahm die Lesebrille ab und massierte seinen geschwollenen Nasenhöcker. Er hatte Stunden über dem Bodenpuzzle gekniet, und die Mosaikpappen lautlos ineinandergedrückt, um nicht zu überhören, wenn sich Catherine drüben in der Wohnung rührte. Doch dort war alles still geblieben.
    Perdus Brust, sein Kreuz, sein Nacken taten ihm weh, als er sich das Hemd auszog. Er duschte, bis seine Haut blau von der Kälte wurde und dann krebsrot, als er sich heiß abbrauste.

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