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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina George
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Frage zu stellen.
Ich wünschte, ich wäre das Licht der Provence, wenn die Sonne untergeht. Dann könnte ich überall sein, in jedem lebendigen Ding, es wäre meine Natur, und niemand würde mich hassen.
Ich muss mein Gesicht ordnen, bevor ich in Avignon ankomme. Ich hoffe, dass Papa mich abholt, nicht Luc, nicht Maman.
Immer, wenn ich länger in Paris bin, will es sich diesen Mienen anpassen, mit denen sich die Großstadtgeschöpfe auf den Straßen aneinander vorbeidrücken, als merkten sie gar nicht, dass sie nicht allein sind. Es sind Gesichter, die sagen: »Ich? Ich will nichts. Ich brauche nichts. Nichts kann mich beeindrucken, schockieren, überraschen oder gar erfreuen. Freuen ist was für Einfaltspinsel aus Vorstädten und stinkenden Kuhscheunen. Die können sich ja freuen, wenn sie unbedingt wollen. Unsereins hat Wichtigeres zu tun.«
Aber mein gleichgültiges Gesicht ist nicht das Problem.
Es ist das neunte.
Maman sagt, ich habe es zu meinen anderen dazubekommen. Sie kennt meine unterschiedliche Mimik, seit ich als faltiger Wurm auf die Welt kam. Aber Paris hätte mir ein neues Gesicht zwischen Scheitel und Kinn geschnitten. Sie hat es wohl beim letzten Heimkommen schon gesehen, als ich an Jean dachte, seinen Mund, sein Lachen, sein »Das musst du lesen, es wird dir guttun«.
»Wärst du meine Rivalin, ich würde dich fürchten«, sagte sie. Sie war ganz erschrocken, dass das so aus ihrem Mund herausplatzte.
Mit Wahrheiten gehen wir immer derart kurz und klar um. Als Mädchen lernte ich, dass jene Beziehungen am besten seien, die »klar wie Wasser« sind. Sind die schwierigen Dinge gesagt, verlieren sie ihre Tödlichkeit, hieß es.
Ich glaube, das gilt nicht für alles.
Maman ist mein »neuntes Gesicht« unheimlich. Ich weiß, was sie meint. Ich habe es in Jeans Spiegel gesehen, als er mir den Rücken mit einem angewärmten Handtuch abrubbelte. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, nimmt er sich einen Teil von mir vor und wärmt ihn, damit ich nicht eingehe wie ein fröstelnder Zitronenbaum. Er wäre ein Gluckenvater.
Es war ein wollüstiges Gesicht, getarnt unter Beherrschung, was es noch unheimlicher macht.
Maman hat immer noch Angst um mich; fast steckt sie mich damit an, und ich denke: Na gut, wenn mir wirklich was passiert, will ich bis dahin aber leben, so intensiv es geht, und ich will keine Beschwerden hören.
Sie fragt wenig, und ich erzähle viel – ich bin geradezu detailversessen, was meine Wochen in der Hauptstadt angeht, und ich verberge Jean hinter einem Glasperlenvorhang aus klingenden, bunten, durchschaubaren Details, Details, Details. Klar wie Wasser.
»Paris hat dich von uns entfernt und dir nähergebracht, nicht wahr?«, sagt Maman, und wenn sie »Paris« sagt, dann weiß sie, dass ich weiß, dass sie einen Männernamen meint, den ich ihr nur nicht bereit bin zu nennen.
Ich werde nie bereit dafür sein.
Ich bin mir selbst so fremd. Als ob Jean eine Kruste abgeschält hätte, unter der ein tieferes, genaueres Ich zum Vorschein kommt, das sich mir spöttisch lächelnd entgegendrückt.
»Na?«, fragt es. »Dachtest du wirklich, du wärst eine Frau ohne Eigenschaften?«
(Jean sagt, Musil zitieren ist kein Zeichen von Klugheit, nur von Gedächtnistraining.)
Was ist das nur, was uns passiert?
Diese verfluchte Freiheit! Sie verlangt, dass ich schweige wie ein toter Baumstumpf, darüber, was mir passiert, wenn mich die Familie und Luc im Seminar an der Sorbonne und abends fleißig wähnen. Sie verlangt, dass ich mich beherrsche, mich zerstöre, verstecke, verleumde in Bonnieux und es niemandem zumute, zu beichten und mich mit meinem geheimen Leben interessant zu machen.
Ich fühle mich wie auf dem Ventoux ausgesetzt, dem Mistral, der Sonne, dem Regen, der Weite. Ich kann so weit sehen und so frei atmen wie noch nie – habe aber jeden Schutz verloren. Freiheit ist Verlust der Sicherheit, sagt Jean.
Aber weiß er wirklich, was ich verliere?
Und weiß ich wirklich, worauf er verzichtet, wenn er mich wählt? Er sagt, er will keine Frau neben mir haben. Es sei schon genug, dass ich zwei Leben führte, da wollte er es nicht auch noch tun. Ich könnte jedes Mal vor Dankbarkeit weinen, wenn er es mir wieder einmal leichtmacht. Nie ein Vorwurf, kaum eine gefährliche Frage; er gibt mir das Gefühl, ein Geschenk zu sein und nicht nur ein schlechter Mensch mit zu vielen Wünschen ans Leben.
Wem immer ich mich in der Heimat auch anvertraute, der oder die wäre gezwungen, mit mir zu lügen, zu verheimlichen, zu

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