Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Flüssen bewegte. »Das Buch ist wie die Frau, die ich liebte. Es führt zu ihr. Es ist flüssige Liebe. Es ist das Maß an Liebe, das ich gerade noch ertragen habe. Das ich gerade noch fühlen konnte. Es ist wie der Strohhalm gewesen, durch den ich die letzten zwanzig Jahre geatmet habe.«
Jean wischte sich über das Gesicht.
Aber das war nicht die ganze Wahrheit.
Nicht mehr die einzige.
»Es hat mir geholfen zu überleben. Ich brauche das Buch nicht mehr, weil ich jetzt wieder selbst … atmen kann. Aber ich möchte mich bedanken.«
Max sah ihn an, voller Respekt und Staunen.
Samy grinste breit.
»Ein Atemholbuch. Ich verstehe.«
Sie sah aus dem Fenster. In den Straßen mehrten sich die literarischen Figuren.
»Ich hätte nicht erwartet, dass eines Tages doch noch jemand wie Sie kommt«, sagte sie seufzend.
Jean spürte, wie sich seine Rückenmuskeln verspannten.
»Sie sind natürlich nicht der Erste. Es waren aber auch nicht viele. Sie alle haben das Rätsel ungelöst zurückgelassen. Sie alle haben nicht die richtigen Fragen gestellt. Fragen stellen, das ist eine Kunst.«
Samy sah immer noch aus dem Fenster. Dort hingen Holzstückchen an dünnen Fäden. Wenn man das Strandgut länger betrachtete, konnte man die Form eines springenden Fisches erkennen. Und ein Gesicht, einen Engel mit einem Flügel …
»Die meisten fragen nur, um sich selbst reden zu hören. Oder um etwas zu hören, was sie verkraften können, aber bitte nichts, was ihnen zu viel wird. Die Frage ›Liebst du mich?‹ gehört dazu. Sie sollte generell verboten werden.«
Sie schlug die Hobbitfüße gegeneinander.
»Stellen Sie die Frage«, forderte sie.
»Habe ich … habe ich nur eine frei?«, fragte Perdu.
Samy lächelte herzlich.
»Natürlich nicht. Sie haben nicht nur eine Frage frei, Sie haben so viele Sie wollen. Nur müssen Sie sie so stellen, dass Sie darauf nur Ja- oder Nein-Antworten bekommen.«
»Sie kennen ihn also?«
»Nein.«
»Die richtige Frage bedeutet, dass jedes Wort stimmen muss«, wiederholte Max und stubste Jean aufgeregt mit dem Ellbogen an.
Perdu korrigierte sich. »Sie kennen sie also?«
»Ja.«
Samy schaute wohlwollend zu Max. »Ich sehe, Monsieur Jordan, Sie haben das Prinzip der Fragen begriffen. Die richtigen Fragen können einen Menschen sehr glücklich machen. Was macht eigentlich Ihr nächstes Buch? Es ist das zweite, oder? Der Fluch des zweiten Buches, all die Erwartungen … Sie sollten sich getrost zwanzig Jahre Zeit lassen. Am besten, wenn man Sie ein klein wenig vergessen hat. Dann sind Sie frei.«
Max bekam rote Ohren.
»Nächste Frage, Seelenleser.«
»Ist es Brigitte Carno?«
»Nein! Himmel!«
»Aber Sanary lebt noch.«
Samy lächelte. »O ja.«
»Können Sie … mir helfen, sie kennenzulernen?«
Samy überlegte.
»Ja.«
»Wie?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Das war keine Ja-nein-Frage«, erinnerte Max.
»Also, ich koche heute Bouillabaisse«, schaltete sich Cuneo ein. »Um halb acht hole ich Sie ab. Dann können Sie und Capitano Perdito weiter ›ja-nein-weiß-nicht‹ spielen. Sì? Sie sind aber nicht unglücklicherweise verlobt? Hätten Sie Lust auf eine kleine Bootstour?«
Samy sah von einem zum anderen.
»Ja und nein und ja«, sagte sie fest. »Gut, damit ist ja alles geklärt. Entschuldigen Sie mich nun: Ich muss diese wunderbaren Kreaturen da draußen begrüßen, etwas Nettes zu ihnen in einer Sprache sagen, die Tolkien erfunden hat. Ich hab’s geübt, aber es hört sich an, als ob Chewbacca versucht, eine Neujahrsansprache zu halten.«
Samy erhob sich, und sie alle glotzten wieder auf ihre wirklich gut gemachten Hobbitfußschlappen.
Als sie an der Tür war, drehte sie sich noch einmal um.
»Max, wussten Sie, dass Sterne von ihrer Geburt bis zu ihrer wahren Größe ein Jahr brauchen? Und dann sind sie die nächsten Millionen Jahre nur damit beschäftigt, hell zu leuchten. Sonderbar, oder? Haben Sie mal versucht, eine neue Sprache zu erfinden? Oder ein paar neue Wörter? Ich würde mich wirklich wahnsinnig glücklich schätzen, wenn ich von dem berühmtesten lebenden Schriftsteller unter dreißig heute Abend ein neues Wort geschenkt bekäme. Ja?«
Ihre dunkelblauen Augen funkelten.
Und in Max explodierte in dem geheimen Garten seiner Fantasie eine kleine Samenbombe.
Als Salvo Cuneo, angetan mit seinem besten karierten Hemd, Jeans und Lackschuhen, am Abend Samy von der Druckerei abholte – da stand sie mit drei Koffern, einem Adlerfarn in einem Topf und
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