Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
aber ich wollte ihn nicht daran erinnern, wie er mich beim Lauschen erwischt hatte. »Hätten Dad und Lisa denn dort bleiben können?«, fragte ich stattdessen. »Nicht unbedingt in Tulsa. Aber irgendwo in der Nähe? Hätte Dad dort Arbeit finden können?«
»Vielleicht«, sagte Alex. »Vielleicht auch nicht. Das ist alles Schwerstarbeit. Aber er hatte außer Lisa und dem Baby sowieso nur eins im Sinn und das war, zu euch zurückzukehren. Er hat so viel von euch gesprochen, dass ich schon das Gefühl hatte, euch zu kennen, bevor ich euch überhaupt begegnet bin. Du bist letztes Jahr in der Schulmannschaft geschwommen, davor hast du Eiskunstlauf gemacht, und bei der Aufführung des Zauberers von Oz in der vierten Klasse warst du Glinda, die gute Hexe des Nordens.«
»Das alles hat er dir erzählt?«, fragte ich.
»Und noch viel mehr«, sagte Alex. »Über euch alle.«
Ich dachte an Dad und daran, dass ich tatsächlich einen Moment lang geglaubt hatte, er könne jemand anderen genauso lieben wie uns. Ich fühlte mich erleichtert und schuldbewusst zugleich. Aber vor allem war ich Alex dankbar, auch wenn er nicht einmal ahnen konnte, wie wichtig seine Bemerkung für mich gewesen war.
»Darf ich dich auch mal etwas fragen?«, sagte er.
»Aber unbedingt«, sagte ich. LLJA wollte mich etwas fragen!
»Die Blutergüsse im Gesicht«, sagte er. »Als wir letzte Woche ankamen, waren die noch ziemlich schlimm. Wo hattest du die her?«
Schön zu wissen, dass das Erste, was er an mir bemerkt hatte, meine atemberaubende Sammlung blauer Flecken gewesen war. »Ich bin beim Radfahren über den Lenker gegangen«, sagte ich.
»Ach so«, sagte er. »Julie und ich hatten nämlich eine Wette laufen.«
»Und wer hat gewonnen?«, fragte ich und versuchte, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen.
»Keiner von uns«, sagte Alex. »Sie hat darauf gewettet, dass du dich mit Syl geprügelt hast. Und ich darauf, dass Matt dir eine geknallt hat.«
»Matt hat mich noch nie geschlagen«, sagte ich. »So hat man uns nicht erzogen. Wir sind doch keine Tiere.«
»Wir auch nicht«, sagte Alex. »Man muss schließlich kein Tier sein, um seine Schwester zu schlagen.«
»So was gibt es bei uns nicht«, sagte ich und klang dabei genauso wie Mom.
»Ist klar«, sagte Alex und klang dabei genauso wie ich.
Den restlichen Weg legten wir schweigend zurück, außer wenn ich ihm sagte, wo er abbiegen sollte. Aber ich konnte nicht lange beleidigt sein, wenn ich an die vielen Vorräte dachte, die wir mit unserem Transporter nach Hause brachten, mitsamt den dazugehörigen Benzinkanistern.
Mom und Lisa blieben im Haus und versuchten, einen Platz für die vielen Kartons zu finden, während der Rest von uns die Lebensmittel reinbrachte. Die Begeisterung war ansteckend. Charlie sang »Oh, What a Beautiful Morning«, Julie tanzte im Kreis, Matt und Syl fielen sich in die Arme und Dad weinte vor Freude.
Und ich stellte fest, dass Alex doch lächeln kann.
10. Juni
Man könnte meinen, mit einem Haus voller Lebensmittel würden wir jetzt erst mal nonstop essen. Aber nein. Wir nicht.
Als Erstes wies Matt darauf hin, dass auch diese riesig erscheinenden Vorräte bei zehn Personen im Handumdrehen verschwunden sein würden. Na gut, ›im Handumdrehen‹ hat er nicht gesagt. Aber er hat gesagt, wenn jeder von uns hundert Gramm Reis pro Tag essen würde, wären die vier 10-Kilo-Säcke in etwas über einem Monat verbraucht.
Wobei sich hundert Gramm Reis für mich ziemlich viel anhört. Außerdem haben wir ja auch noch viele andere Sachen mitgebracht. Plus den Lebensmitteln, die wir jede Woche bekommen. Plus dem, was noch an Fisch in der Garage liegt. Aber Mom meinte auch, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, damit die Vorräte möglichst lange halten.
Dann machte uns Charlie – Mr ›Oh, What a Beautiful Morning‹ – darauf aufmerksam, dass manche Lebensmittel vielleicht schon verdorben waren und was für eine Katastrophe es wäre, wenn wir alle gleichzeitig eine Lebensmittelvergiftung bekämen.
Er schlug vor, wir sollten uns zu Testpärchen zusammentun (das Wort ist von ihm – ›Testpärchen‹). Dann könnten jeden Morgen zwei von uns einen Happen aus der einen Dose und zwei andere aus einer anderen Dose probieren. Immer so weiter, und wenn dann keiner krank wird, könnten auch alle anderen von den Lebensmitteln essen, die wir morgens probiert hatten.
Matt und Syl taten sich zu einem Testpärchen zusammen, Jon meldete sich freiwillig mit Julie, so
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