Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
fortgehen«, sagte ich. »Mom will nicht weg von hier. Und solange Dad, Lisa und Gabriel in Mrs Nesbitts Haus wohnen können, haben sie auch keinen Grund zu gehen.«
»Alle Leute gehen irgendwann weg«, sagte Julie.
Damit hatte sie natürlich Recht, auch wenn ich mir das für die nächste Zeit absolut nicht vorstellen konnte. »Wenn, dann sagen wir dir vorher Bescheid«, sagte ich. »Das verspreche ich dir.«
»Und ich verspreche dir, dass du ohne Jacke bald erfrierst«, sagte Charlie und kam auf uns zu. »Wir haben zwar schon Mitte Juni, aber es ist trotzdem eiskalt.«
»Nicht eis kalt«, sagte ich und nahm ihm dankbar meine Jacke ab. »Immerhin ist es heute nicht unter null.«
»Nein«, sagte Charlie. »Bestimmt sogar vier oder fünf Grad drüber.« Er lachte. »Früher hab ich die Hitze gehasst. Da brauchte ich nur zu atmen und hab schon geschwitzt. Aber wenn ich jetzt an laue Sommerabende denke, würde ich schon so einiges dafür geben.«
»Was denn?«, fragte Julie. »Was würdest du dafür geben?«
Charlie lachte wieder. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Keinen von euch jedenfalls. Und mehr hab ich nicht. Ich fürchte, ich kann nichts zum Tausch anbieten.«
»Ich hab immer gedacht, hier würde man noch Sterne sehen«, sagte Julie. »Hier draußen, meine ich. Im Sommer sind wir immer in ein Ferienlager aufs Land gefahren, da konnte man ganz viele Sterne sehen. Ich hatte mal eine Postkarte, von einem Gemälde mit so irre großen Sternen drauf.«
» Sternennacht «, sagte ich. »Vincent van Gogh hat die gemalt. Ich hab sie in einem Museum in New York gesehen. Du kommst doch aus New York, oder, Julie? Hast du dir das Bild mal angesehen?«
»Nein«, sagte Julie. »Aber ich war auch schon mal im Museum. Mit der Schule sind wir im Naturkunde-Museum gewesen und haben uns stundenlang Dinosaurier angeguckt.«
»Die Dinosaurier gibt es nicht mehr«, sagte ich. »Genau wie die Sterne.«
»Die Sterne sind noch da«, sagte Charlie. »Sie verstecken sich hinter den Aschewolken, aber es gibt sie noch.«
»Ich glaub nur an das, was ich sehen kann«, sagte ich.
»Gott braucht man nicht zu sehen, um an Ihn zu glauben«, sagte Julie. »Man kann Ihn spüren, genauso wie la Santa Madre oder die Heiligen. So, wie man die Sonne spürt, auch wenn man sie nicht sieht.«
»Aber die Sterne kann ich weder sehen noch spüren, deshalb glaube ich nicht mehr an sie«, sagte ich. »Für mich existieren sie einfach nicht mehr.«
»Stell’s dir doch mal umgekehrt vor«, sagte Charlie. »Glaubst du, dass es Leben auf anderen Planeten gibt?«
»Schon«, sagte ich. »Und ich hoffe, die haben’s da oben besser als wir.«
Charlie lachte. »Also gut. Dann stell dir doch mal Prinzessin Leia auf ihrem Planeten vor, einen Klingonen oder irgendein achtäugiges Wesen mit vier Gehirnen. Und einer von denen steht nun in einer warmen Juninacht im Freien und schaut zu den Zehntausenden von Sternen an seinem Himmel hinauf. Unsere Sonne ist einer davon. Von dort kann man sie besser sehen als von hier. Sie haben ihr auch einen Namen gegeben, genauso, wie wir alle Sterne benannt haben. Aber Prinzessin Leia weiß nicht, dass wir hier stehen und nach oben schauen, dorthin, wo früher die Sterne waren. Heißt das dann auch, dass wir gar nicht existieren, nur weil sie uns nicht sehen kann?«
Daran hatte ich bisher noch nie gedacht: an all die Lebensformen auf den anderen Planeten des Universums, die genauso wenig von unserem Leben und Leiden ahnten wie wir von ihrem.
Ich überlegte, wie viele Jungs es dort oben wohl geben mochte und wie viele von ihnen vorhatten, ins Kloster zu gehen. Ich musste lachen.
Charlie stimmte in mein Lachen ein. Julie auch. Wahrscheinlich haben wir jeder über etwas anderes gelacht, aber das störte uns nicht. Wir lebten, wir waren zusammen und an irgendeinem Junihimmel gab es Sterne.
13. Juni
Heute war der Umzug.
Da musste es natürlich regnen.
Mom blieb im Haus, um Gabriel zu hüten, während wir anderen den ganzen Kram zu Mrs Nesbitt rüberschleppten: Lebensmittel, Decken, Laken, die Kleidung, die wir uns mit den anderen teilen. Jede Menge Bücher.
Ich habe es nicht geglaubt, bis Dad schließlich rüberkam, um Gabriel zu holen. Aber sie sind wirklich weg. Auch wenn sie nur ein Haus weiter wohnen.
Jetzt sind wir nur noch zu fünft, und alles ist so still.
15. Juni
Heute stand Lisa völlig aufgelöst vor unserer Tür.
»Alex will morgen mit Julie los«, sagte sie. »Miranda, du bist die Einzige, auf die er
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