Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
können auch nur zum Essen rüberkommen«, sagte Charlie. »Ohne Sie würde etwas fehlen.«
»Ich überleg’s mir«, sagte Mom. Wir alle wussten, dass das ›Nein, danke‹ hieß.
Zwischen beiden Häusern herrscht ein reges Kommen und Gehen. Julie ist jeden Morgen hier, um mit Jon für die Schule zu lernen, und Jon isst meist bei Dad zu Abend. Syl geht regelmäßig zu Lisa, um in der Bibel zu lesen. Mom schickt mich ständig mit irgendeinem Auftrag rüber oder Alex bringt uns etwas vorbei. Und Charlie und Mom haben ihren eigenen kleinen Lesezirkel gegründet. Einer von ihnen liest einen Krimi, gibt ihn an den anderen weiter, und dann diskutieren sie darüber.
Aber Charlie muss dafür immer zu uns kommen. Mom geht nie rüber. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht erträgt sie es nicht, Mrs Nesbitts Haus voll fremder Leute zu sehen. Oder sie will Dad und Lisa aus dem Weg gehen. Oder sie glaubt, dass die beiden ihr aus dem Weg gehen wollen. Für Mom ist es sicher nicht leicht, Dad und Lisa in der Nähe zu haben. Vielleicht denkt sie, dass es ihnen umgekehrt genauso geht.
Sie sind ja auch erst vor ein paar Tagen ausgezogen. Kann sein, dass Mom nächste Woche auch mal rübergeht.
18. Juni
Heute Morgen sind wir zu viert zu Mrs Nesbitt. Jon ging ins Wohnzimmer, wo Alex und Julie eine kleine Kapelle eingerichtet haben, während Matt, Syl und ich bei den anderen in der Küche blieben.
Dad hat Mrs Nesbitts Tisch wieder in die Küche gestellt und wir haben uns für den Gottesdienst um den Tisch gesetzt. Dadurch wirkte alles gleich ein bisschen normaler. Ich war froh darüber.
Irgendeiner hat dann immer einen Choral angestimmt, und wer ihn kannte, hat mitgesungen. Ich wünschte mir »Take My Hand, Precious Lord«, weil das Grandmas Lieblingschoral gewesen war. Wir haben ein paar Gebete gesprochen. Syl hat von dem Frieden erzählt, den sie empfindet, seit sie Christus als ihren Erlöser angenommen hat. Das muss wohl passiert sein, nachdem sich die Mondgöttin Diana als totale Niete erwiesen hat.
Dann hat Charlie eine Predigt gehalten, wenn man das so nennen kann. Er sagte, er hätte in letzter Zeit oft über Noah und seine Familie nachgedacht und wie diese vierzig Tage und Nächte für sie gewesen sein müssen. Schließlich mussten sie davon ausgehen, dass sie die letzten Menschen auf Erden waren. Alle anderen würden künftig von ihnen abstammen, aber nur, wenn sie am Leben blieben. Da mussten sie einfach auf Gott vertrauen.
»Die Karnickel haben sich bestimmt keine Gedanken darum gemacht«, sagte Charlie. »Die haben halt getan, was Karnickel so tun. Aber für uns Menschen ist es Segen und Fluch zugleich, dass wir unsere Vergangenheit kennen und wissen, dass es eine Zukunft gibt.«
Er beugte sich vor und berührte Lisa mit der einen und Syl mit der anderen Hand. »Unsere Vergangenheit ist verschwunden«, sagte er. »Aber unsere Zukunft lebt hier und jetzt in diesem Haus. Der kleine Gabriel, der friedlich in seinem Bettchen schläft. Die Kinder, die Syl gebären wird, ebenso wie Miranda und Julie. Ihre Kinder, auch die noch ungeborenen, sind Gottes Geschenk an die Zukunft, genau wie die Arche es war.«
Dad drückte Lisas Hand. Matt drückte Syls Hand. Ich fühlte mich als Teil eines großen Ganzen und gleichzeitig sehr allein.
Als dann Alex, Julie und Jon in die Küche kamen, machten Dad und Lisa das Essen. Die Küche war brechend voll, und wir passten nicht alle an den Tisch. Dad, Matt und Alex aßen im Stehen an die Spüle gelehnt.
Bei uns gab es früher kein Sonntagsessen. Der Sonntag war den Leichtathletikturnieren, Eislaufwettkämpfen und Baseballspielen vorbehalten. Insofern war für mich sogar ein Sonntagsessen mit Trockenfleisch als Hauptgang etwas Besonderes.
»Ich sollte mal wieder zu Mom zurück«, sagte ich.
»Ich bring dich hin«, sagte Alex.
Es war komisch, ohne Jacke draußen rumlaufen zu können. Es war komisch, von einem Jungen nach Hause gebracht zu werden. Und es war komisch und schrecklich zugleich, wenn ich daran dachte, dass ich ihn in ein paar Tagen nie mehr wiedersehen würde. Dann wären Julie und er genau wie all die anderen Menschen, die mein Leben eine Zeit lang geteilt und mich dann verlassen hatten.
»Hast du’s dir anders überlegt?«, fragte ich. »Mit Julie?«
»Nein«, sagte er. »Hast du das erwartet?«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich hoffe immer noch. Sogar darauf, dass auch du hierbleibst.«
»Am Dienstag brechen wir auf«, sagte er. »Das ist für alle das
Weitere Kostenlose Bücher