Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
zu haben. Wenn meiner zuhause war, kam er mir eher wie ein Untermieter als wie ein Mitglied der Familie vor. Zwischen seinen sogenannten Geschäftsreisen tauchte er immer wieder auf in einem schicken Hemd und – falls ihn sein letztes Vorhaben in wärmere Gegenden geführt hatte – braun gebrannt. Meinem Bruder klopfte er zur Begrüßung auf die Schulter, wie man es mit einem Kollegen oder Sportskumpan macht. Dabei war Ray auch als Kind schon nicht der Typ für diese Kumpelhaftigkeit.
Mich küsste George auf die Wange oder tätschelte mir den Kopf wie einem Hündchen. Er brachte mir Seifen und Duschhauben aus Hotels mit und ein T-Shirt mit Strasssteinen und der Aufschrift I left it in Las Vegas . Ich fragte mich oft, ob er mich überhaupt kannte. Wie konnte er auf die Idee kommen, dass ich so etwas anziehen würde?
Sein Verhalten Val gegenüber war von einem beißenden Humor bar jeder Zärtlichkeit geprägt. Wenn er von seinen Reisen zurückkam, verschwanden die beiden kurz darauf im Schlafzimmer, aber ich erlebte nie, dass sie sich küssten. Und wenn George über Val sprach, machte er sich meist über etwas lustig: ihre mangelnden Fähigkeiten als Hausfrau, ihr Ungeschick beim Kochen, ihre hohen Ausgaben für Farben.
Ich war zu klein, um das zu begreifen, aber die unterschwellige Schärfe in seiner Stimme beunruhigte mich. »Hat sich deine Mom neue Freunde gesucht, während ich weg war?«, fragte er mich manchmal. Und zu Ray sagte er einmal: »Ich geb dir einen guten Rat, Junge. Mit hässlichen Frauen bist du besser dran. Die machen keinen Ärger.«
Val schwieg, wenn er solche Bemerkungen machte. Keiner von uns äußerte sich dazu. In solchen Momenten konnte man sicher sein, dass mein Bruder sich auf sein Einrad schwang und verschwand oder seine Mundharmonika aus der Tasche holte und zu spielen begann. Val verzog sich in den jeweiligen Raum, der ihr gerade als Atelier diente. Und mein Vater ging meist aus, um ein Bier zu trinken. Von der Arbeit an seinem Roman war nicht mehr die Rede.
Ich machte mich immer in die Bibliothek auf und schaute mir neue Biografien von Menschen an, deren Leben ich ermutigend fand: Nelly Bly, der Journalistin; Clara Barton, der Begründerin des amerikanischen Roten Kreuzes; Harriet Tubman, die während des Sezessionskrieges vielen Sklaven zur Flucht in den Norden verholfen hatte. Und ich kümmerte mich um meine Avocadopflanzen und meinen Garten auf dem Fenstersims und experimentierte mit interessanten Mixturen – Kaffeesatz, zermahlenen Eierschalen und Gemüseschalen, die ich durch unseren Safter gedreht hatte – als Dünger. Ich versuchte es auch mit Bohnenkeimlingen und Brotschimmel. Und stellte mir dabei vor, ich würde auf dem Land wohnen, Hühner züchten und mich von den Erträgen meines Gartens ernähren, weit entfernt von Menschen, die in meinem Leben herumpfuschten.
Ruth
Nicht über den Rand
M it meiner Mutter kam ich nie gut zurecht, aber meinen Vater vergötterte ich. Er war der Einzige in der Familie, der mich wirklich zu mögen schien, auch wenn er nicht immer verstand, was in meinem Kopf vorging. Meine Mutter blieb distanziert und abweisend, aber mein Vater war stets liebevoll zu mir. Wenn ich meine Pflichten im Stall vernachlässigte oder wenn er Schimmel auf den Blaubeersträuchern entdeckte, deren Pflege mir oblag, konnte er auch streng sein. Aber grundsätzlich schien er sich darüber zu freuen, dass ich anders war als meine Schwestern.
»Meine Bohnenstange«, sagte er zu mir. »Nachdem ich so viele Jahre Mais angepflanzt habe, muss sich da oben jemand gedacht haben, ich sollte nun eine Tochter kriegen, deren Haare die Farbe von Maiskörnern hat.«
Und: »Einen Sohn habe ich nicht bekommen, aber eine Künstlerin.«
Meine Mutter verhielt sich in all den Jahren meiner Kindheit mir gegenüber kühl. Sie war ohnehin kein sehr emotionaler Mensch, doch die stille Zuneigung, die sie meinen Schwestern gegenüber an den Tag legte, wirkte aufrichtig. Ihren Umgang mit mir dagegen empfand ich immer als bemüht. Wenn sie mich auf die Wange küsste oder mir die Haare bürstete, tat sie das mit derselben ordentlichen Sorgfalt, mit der sie Tomaten einmachte oder Gurken in Essig einlegte. Es fühlte sich immer an, als müsse sie sich daran erinnern, mich nicht zu vergessen. Ihre Berührungen hatten etwas Mechanisches an sich, und ermutigende Worte hörten sich an wie abgelesen.
Sie lobte Aufsätze, die Esther oder Naomi von der Schule nach Hause brachten, oder hängte
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