Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
berichtete – sie hatte mir zu dem Thema keine weiteren Informationen gegeben außer der Aufforderung, vorsichtig zu sein und ansonsten meine Schwestern zu befragen –, hielt eine neue Art von Figuren Einzug in meine Geschichten.
Das waren Jungen, wie mein Vater sie im Sommer als Aushilfsarbeiter einstellte, aber in meiner Fantasie sahen sie besser aus als Victor Patucci. Victor hatte Akne – vermutlich von der Pomade, dachte ich mir – und gab unseren Kühen Namen von Mädchen aus dem Playboy . Eines Tages entdeckte ich die Nacktfotos in der Scheune, wo er sie hinter Heuballen versteckt hatte.
Ich mochte eher junge Männer wie Bob Dylan, von dem ich eine Schallplatte so oft auf dem Plattenspieler von Sarah und Naomi hörte, wie meine Schwestern es mir erlaubten. Auf dem Cover sah man ihn mit seiner wunderschönen langhaarigen Freundin durch die Straßen von New York laufen. Ich sprach mit niemandem darüber, aber bei den Mundharmonikapassagen musste ich immer an Ray Dickerson denken.
Manchmal stellte ich mir Bob Dylan vor, manchmal Ray. Und in meinen Geschichten ging ich nun nicht mehr schöne Kleider einkaufen oder schlief in Himmelbetten, sondern ich wurde von diesen jungen Männern ausgezogen; wie sie selbst allerdings ohne Kleider aussehen würden, konnte ich mir nicht vorstellen. In einem dieser Tagträume bürstete Bob Dylan mir die Haare. Dann küsste er mich und berührte meine Brüste. Und ich selbst streichelte sie auch, wenn ich daran dachte. Und berührte mich dann weiter unten. An dieser Stelle, die meine Mutter nie erwähnte, außer im Zusammenhang mit Babys.
Doch da gab es noch mehr als Babys.
Als ich klein war, brachte mein Vater mir einmal ein Buch mit, Harold and the Purple Crayon . Meine Mutter konnte mit Kindergeschichten wenig anfangen, aber mein Vater ging mit mir in die Stadtbücherei – an regnerischen Tagen, wenn man unmöglich auf dem Feld arbeiten konnte und auch im Gewächshaus nichts Dringendes anstand.
Das Buch handelt davon, dass ein Junge namens Harold einen magischen Buntstift geschenkt bekommt. Alles, was er mit diesem Stift zeichnet, verwandelt sich in etwas Echtes. Den gezeichneten Apfel kann er tatsächlich essen, und mit der gezeichneten Rakete fliegt er in den Weltraum.
Für mich war die Aussage klar: Wer zeichnen kann, dem steht die Welt offen. So wollte ich auch sein. Dass mein Vater das verstanden und deshalb dieses Buch für mich ausgesucht hatte, war einer der Gründe, warum ich ihn liebte. Aber es gab noch viele andere.
Ich glaubte auch, dass mein Vater – und nur er – mein künstlerisches Talent erkannte und stolz darauf war. Als wir ein Schild für den Verkaufsstand brauchten (JUNGE ERBSEN! FRÜHLINGSZWIEBELN! DEN MAIS BITTE NICHT SCHÄLEN – WIR GARANTIEREN: KEINE WÜRMER! ), bekam ich den Auftrag, es zu entwerfen. Und als Sadie, unser Hund, starb, bat mein Vater mich, sie zu zeichnen, damit wir eine Erinnerung an sie hatten.
Mein Vater nahm sich fast nie frei, außer für die Fahrten zu Dickersons oder wenn er wegen hartnäckigen Schädlingen jemanden im Fachbereich Agrarwissenschaften an der Universität um Rat fragen musste oder eine Bodenprobe brauchte. An diesen seltenen Tagen zog er statt seiner üblichen Latzhose seine braune Hose und normale Schuhe an. Er vereinbarte einen Termin im Labor, und wenn er dann mit den Erdproben oder einer Tupperdose, die ein schimmeliges Blatt, einen Pilzschädling oder eine unbekannte Kartoffelkäferart enthielten, ins Labor kam, machte einer der Professoren dort eine Analyse für ihn.
Meine Schwestern begleiteten ihn nie auf diesen Fahrten, und ich genoss es, mit ihm alleine zu sein. Ich saß neben ihm im Führerhaus unseres alten Dodge Pick-up, und das Radio lief, oder mein Vater pfiff oder redete über Dinge, die niemals zur Sprache kamen, wenn meine Mutter in der Nähe war. Er erzählte mir Geschichten aus vergangener Zeit. Wie er einen ganzen Sommer lang einen Kürbis hegte, mit dem er bei der Erntemesse im Herbst den ersten Preis gewinnen wollte, und dann wurde der Kürbis am Abend vor dem Wettbewerb durch einen Hagelsturm zerstört. Oder wie er 1939 mit seinem Großvater nach New York – dort war Greenwich Village, wo Bob Dylan lebte! – zur Weltausstellung fuhr.
Der Krieg und die Verpflichtung, die Farm der Familie weiterzuführen, hatten die Hoffnung meines Vaters auf ein Studium zunichtegemacht. Aber er wollte, dass mir dieser Weg offenstand.
Jedenfalls liebte er es, sich mit den Professoren über
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