Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Zeichnungen von ihnen auf – und fügte dann hinzu, als müsse sie etwas auf einer Liste abhaken: »Und du, Ruth? Was hast du heute gemacht?«
Am schlimmsten waren ihre Umarmungen. Ihre Lippen auf meiner Wange fühlten sich kalt und trocken an. Ich stellte mir immer vor, dass sie die Sekunden zählte, bis sie diese steife Umarmung wieder auflösen und abrupt die Arme fallen lassen konnte. Eine Erlösung für uns beide.
Ich zeigte ihr natürlich meine Zeichnungen, weil Zeichnen meine Stärke war. Den Kunstunterricht liebte ich, und ich sehnte mich nach Ölfarben, Kleber und Glitzerzeug, Filzstiften, Bastelpapier und Silberfolie – all den Dingen, die es bei uns zuhause nicht gab. Dort stand derselbe Kasten Buntstifte im Regal, solange ich denken konnte. Die guten dicken, aber sie waren so alt, dass die besten Farben – Lila und Orange, Rosa, Sonnengelb, Purpur – schon verbraucht waren oder nur noch als Stummel existierten.
Einmal fragte ich meine Mutter, ob ich neue haben könnte. »Wenn du weniger aufdrückst, halten sie länger«, erwiderte sie daraufhin. »Außerdem sind ja noch genügend da.« Dabei handelte es sich um die braunen, grauen und beigefarbenen Stifte. Für meine Mutter waren Farben austauschbar.
Und obwohl mir Zeichnen so wichtig war, schienen meiner Mutter immer die Bilder meiner Schwestern besser zu gefallen. Winnie – meine Schwester Edwina – gelang es besonders gut, in ihren Ausmalbüchern nicht über den Rand zu malen, und Naomi konnte gut die Figuren der Peanuts nachzeichnen.
»Das sollten wir an die Zeitung schicken«, sagte meine Mutter einmal, als Naomi ihr eine Zeichnung von Snoopy auf seiner Hundehütte und Charlie Brown brachte.
»Das ist doch nur kopiert«, murmelte ich vor mich hin. Wieso sollte die Zeitung so etwas abdrucken wollen, wenn es schon die Original-Cartoons gab?
In meinen Bildern, die ich in der Scheune auf dem Heuboden malte, wimmelte es von erfundenen Figuren: hübschen Mädchen in prachtvollen Kleidern, die sogar noch schöner waren als die Sachen von Dana Dickersons Barbie. Das liebte ich so sehr am Zeichnen: dass man hemmungslos träumen konnte, dass es keine Grenzen gab für die Fantasie.
In meiner Familie wurden meine Fantasie und meine Fähigkeit, Geschichten und Szenarien auszudenken, als Problem betrachtet. Meine Mutter war der Meinung, das wiese auf Unehrlichkeit hin und fördere unreine Gedanken. Alle Geschichten, die der Mensch brauchte, standen doch in der Bibel. Weshalb sollte man weitere erfinden?
Aber genau das tat ich. Abends in unserem Zimmer, wenn Esther und Winnie eingeschlafen waren, dachte ich mir alles Mögliche aus.
Ich stellte mir ein Waisenmädchen vor, das auf einer Farm arbeitet und gerade auf den Erdbeerfeldern Unkraut jätet, als eine Limousine anhält. Eine Frau steigt aus, kauft alle Erdbeeren, und als das Mädchen die Körbchen mit den reifen Beeren zum Auto trägt, fragt die Frau: »Wo wohnst du?«
»Da drüben«, antwortet das Waisenmädchen und deutet zur Scheune, in der sie neben den Kühen schläft. Ihr grausamer Herr hat ihr nur eine harte Pritsche und eine kratzige Decke aus Pferdehaaren für die kalten Nächte gegeben.
»Komm doch mit mir«, sagt die Frau.
»Was wird aus meinen Kleidern?«, fragt das Mädchen, obwohl es nur einen Kopfkissenbezug mit Löchern für Arme und Beine und ein paar Lumpen besitzt, die sie von der Frau des grausamen Farmers bekommen hat.
»Darüber mach dir keine Gedanken«, erwidert die Frau, streicht dem Mädchen übers Haar und zieht es an seinem flauschigen weißen Pelzmantel. »Wenn du bei mir in Hollywood lebst, kaufen wir dir alles, was du brauchst.«
Natürlich stellt sich heraus, dass die Frau ein Filmstar ist, und die beiden treten zusammen in einem Film auf. Das Waisenmädchen, das Rose heißt, spielt die heiß geliebte Tochter des Filmstars und wird berühmt. Im wirklichen Leben wird Rose von der schönen Filmschauspielerin adoptiert.
Eines Tages geht der grausame Farmer ins Kino.
»Das hübsche kleine Mädchen da auf der Leinwand kommt mir bekannt vor«, sagt die Farmersfrau zu ihrem Mann.
»O mein Gott, das ist ja Rose«, sagt er. »Hätten wir sie nur besser behandelt. Jetzt ist es zu spät.«
Später erzählte ich mir selbst andere Geschichten, abends oder auch tagsüber, wenn ich mit dem Traktor herumfuhr oder die Tomatenbeete harkte. Mit zwölf, etwa zu der Zeit, als meine Mutter diesen peinlichen Brief an Dickersons schrieb, in dem sie von meiner Frauwerdung
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