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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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fühlte ich mich immer wohl dort. Ich mochte Edwin Planks schlichte Worte, in denen seine Zufriedenheit und sein Stolz zum Ausdruck kamen, wenn er vom frühmorgendlichen Melken der Kühe erzählte und vom Pflügen mit seinem alten Traktor, mit dem er dieselben Furchen anlegte, die vor ihm schon sein Vater und sein Großvater im Acker angelegt hatten.
    »Die sind jetzt natürlich schon lange tot«, sagte er dann. »Das Einzige, was immer weiter besteht, sind die Jahreszeiten, die Aussaat und die Ernten.«
    Obwohl ich noch ein Kind war, fand ich diese Bemerkung anrührend und die Ordnung und die Stabilität im Leben der Planks wunderbar, vor allem im Vergleich mit dem ständigen Chaos im Leben meiner Familie. Und die Vorstellung, dass aus einer Hand voll Samen, die richtig ausgesät und gepflegt wurden, eine hohe Pflanze und etwas Essbares werden konnten, faszinierte mich. Vor allem damals war es für Mädchen ungewöhnlich, sich mit so etwas zu beschäftigen. Aber ich interessierte mich eben nie für Barbie-Puppen und Kleidchen, auch wenn ich all das andauernd von Val geschenkt bekam, die selbst eine Schwäche dafür hatte.
    Ich wühlte gerne in der Erde, fühlte mich davon angezogen. Und wünschte mir, Traktor fahren zu können. Wenn ich in meinem Zimmer alleine war, probierte ich die Jeans meines Bruders an und krempelte sie um. Ich wolle Krankenschwester werden, sagte ich, wenn mich jemand nach meinen Berufswünschen fragte. Oder Mutter. Das sagten Mädchen damals, auch Mädchen wie ich, die eine Mutter wie Val hatten.
    Ich verriet es niemandem, aber in Wahrheit träumte ich davon, Farmer zu werden – wie Edwin Plank.

Ruth
    In der Tradition einer langen Ahnenreihe
    F ür alle Generationen meiner Familie – zehn bis zum Zeitpunkt meiner Geburt – war das Wichtigste im Leben, einen Sohn hervorzubringen, der die Farm erben konnte. Und so muss es für einen Plank zumindest in dieser Hinsicht eine grausame Enttäuschung gewesen sein, nur Töchter zu bekommen. Doch mein Vater erachtete jede von uns als Wunder. »Meine Mädchen« nannte er uns und wirkte dabei, als sei er sehr stolz, diese Schar gezeugt zu haben. Falls er es sich je gestattete, an den Sohn zu denken, den er niemals haben würde, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
    Doch natürlich blieb die Frage, die niemand aussprach: Was würde mit der Farm geschehen, wenn er sie nicht mehr betreiben konnte? Wer würde sie fortführen?
    Mir war schon früh bewusst, was es bedeutete, dieser Familie anzugehören: in der Tradition einer langen Ahnenreihe zu stehen, die mehrere Hundert Jahre zurückreichte, Verantwortung für das Land zu tragen und es an die nächste Generation weiterzugeben. Die Menschen würden kommen und gehen, doch die Farm musste erhalten werden. Und in unserer Familie und auch in der Gesellschaft glaubte man, dass ein Mann dafür zu sorgen hatte.
    Niemand zweifelte daran, dass mein Vater uns alle liebte, aber es widersprach gewiss seinen Vorstellungen, sein Wissen an ein Mädchen weiterzugeben. Meine älteren Schwestern zeigten keinerlei Interesse an der Welt der Ställe und Felder, aber ich wollte immer an der Seite meines Vaters sein. Vielleicht nicht so sehr, weil ich die Arbeit liebte, sondern weil ich ihn liebte. Und weil er vielleicht zum Zeitpunkt meiner Geburt die Hoffnung auf einen Sohn endgültig aufgegeben hatte, erlaubte er, dass ich ihn bei seinen morgendlichen Arbeiten begleitete.
    Ich musste noch vor der Morgendämmerung auf den Beinen sein, wenn ich mitkommen wollte. An diesen Tagen sprang ich frühmorgens aus dem Bett, zog Hemd und Hose an, schlüpfte in meine Turnschuhe, ohne sie zuzubinden, und raste die Treppe hinunter, damit ich noch rechtzeitig da war, bevor mein Vater seinen Kaffeebecher abstellte und, gefolgt von unserem Hund Sadie, zur Haustür hinausging. Manchmal sagte er Guten Morgen, doch darauf war kein Verlass. Denn wenn mein Vater ans Melken und an seine Pflanzen dachte, lebte er in einer eigenen Welt.
    Normalerweise lief ich ein paar Schritte hinter ihm, weil er so weit ausholte, aber ich musste mich auch beeilen, um gleichzeitig mit ihm an der Scheune zu sein. Die Tür mit den wuchtigen Eisenscharnieren ging nämlich so schwer auf, dass ich sie nicht alleine öffnen konnte. Doch wenn ich nicht trödelte, hielt er sie für mich auf.
    Im Stall stieg mir sofort der Geruch von Mist und dem Heu vom Heuboden in die Nase, wo mein Vater eine Schaukel für uns befestigt hatte. An der Wand hing das abgewetzte

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