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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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dass sie nun so spurlos aus unserer Familienlandschaft verschwunden war, als sei ein Tornado am Werke gewesen, verunsicherte mich zutiefst.
    Und dann dachte ich natürlich auch immer noch an ihren Bruder und das Erlebnis auf dem Parkplatz.
    Ich hatte ein paar Liebschaften in meiner Jugend. Einer meiner Freunde war – so unwahrscheinlich mir das heute vorkommt – Victor Patucci, der seit seinem vierzehnten Lebensjahr auf unserer Farm arbeitete, für einen Lohn, von dem er sich vermutlich kaum mehr als seine Haarpomade und schimmernde Radkappen leisten konnte.
    Victor hatte wenig gemein mit den Männern aus meinen Träumen – Dichter, Sänger, Künstler. Victor legte kein besonderes Interesse an der Landwirtschaft an den Tag, sondern hatte damals nur eine einzige Leidenschaft: sein Auto, einen 1962er Chevrolet Impala. Man wusste immer, wenn Victor sich der Farm näherte, wegen der dröhnenden Musik aus dem Autoradio – Tijuana Brass, Mitch Ryder und The Ballad of the Green Berets . Dafür schien Victor eine besondere Schwäche zu haben. Sobald dieser Song im Radio kam, ließ er alles stehen und liegen und sang gemeinsam mit Sergeant Barry Sadler.
    Aber Victor war in einer Hinsicht wichtig für mich: Er brachte mich von der Farm weg – oder vielmehr von meiner Mutter, und das genügte mir als Anlass für die Beziehung, auch wenn der Ort, an den er mich brachte, ganz und gar nicht meinen Wünschen entsprach.
    Während ich in der zehnten Klasse war, fuhr Victor an jedem Wochenende mit mir zu dem Parkplatz neben dem Futterladen – ein Ort, den ich mit meinem Vater verband, weshalb ich mich noch unbehaglicher fühlte als ohnehin schon. Als ich da mit diesem Jungen im Auto saß und seine Berührungen so passiv hinnahm wie eine Kuh, kam es mir vor, als könne mein Vater sehen, wie Victor Patucci mit seinen rauen, ungeschickten Händen an meinen Blusenknöpfen herumfummelte und meine Brüste quetschte, als würde er sie nicht liebkosen, sondern melken wollen.
    Mir war schon damals klar, was ihn zu seinem Verhalten veranlasste: Er wollte später die Farm übernehmen. Mit neunzehn Jahren hatte er bereits beschlossen, dass er eines Tages unser Familienunternehmen führen und – wie er mir gerne erklärte – auf das einundzwanzigste Jahrhundert vorbereiten wollte. Die alte Form von Landwirtschaft sei im Aussterben begriffen, behauptete er.
    »Seien wir doch mal ehrlich«, sagte er. »Dein alter Herr ist ein Dinosaurier. Wenn ihr den Laden hier behalten wollt, braucht ihr einen Mann wie mich, damit Schwung reinkommt.«
    Im Sommer 1967 machte Victor meinem Vater einen Vorschlag, wie man die Verkäufe unseres Standes steigern könne. Jede Woche wolle er mit dem Pick-up meines Vaters zum Markt an der Faneuil Hall in Boston fahren und dort billig Ware einkaufen, die wir nicht anbieten konnten. Dann würden wir unseren Kunden auch Mangos, Ananas, Gewächshausrosen aus Chile und grün, lila oder blau gefärbte Nelken verkaufen können.
    Nur als unser Hund Sadie starb, hatte mein Vater trauriger ausgesehen als an dem Tag, als er schließlich in Victor Patuccis Plan einwilligte. Ich stand an diesem Morgen neben meinem Vater vor dem Haus, während er seinen Kaffee trank und zusah, wie Victor losfuhr, um importierte Gemüse- und Obstsorten zu besorgen, die wir dann auf der Plank-Farm anbieten würden.
    »Kein Farmer sollte die Ernte eines anderen Mannes verkaufen«, sagte mein Vater und trat nach einem Erdklumpen.
    »Ist ja nur, bis die Lage wieder besser wird«, erwiderte ich, obwohl wir beide wussten, dass sie sich aller Voraussicht nach eher noch verschlechtern würde.
    »Aufgeblasenes Würstchen, dieser Bursche«, bemerkte mein Vater nur. Victor hatte verkündet, er habe einen Onkel, der im italienischen Teil von Boston mit Obst und Gemüse handle. Von dem könne er Tomaten zum Schleuderpreis kriegen.
    Aber nicht unsere Traditionssorten – Brandywine, Big Boy, Glamour, Zebra.
    »Heutzutage geht es darum, große Mengen umzuschlagen, Ed«, hatte Victor gesagt. Alle anderen Hilfskräfte auf der Farm nannten meinen Vater Mr Plank, aber Victor sprach ihn hartnäckig mit »Ed« an.
    »Und ich dachte immer, es ginge darum, dass die Leute was Anständiges zu essen auf den Tisch kriegen«, erwiderte mein Vater, bevor er zur Scheune marschierte.
    Dass Victor unsere Farm übernehmen wollte, obwohl er nicht das geringste Interesse an Landwirtschaft hatte, kam mir ziemlich eigenartig vor. Und eines Abends beim Essen in einem Diner in Dover

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