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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Mutter sich außer dem Wunsch, in den Himmel zu kommen, nach nichts so sehr sehnte wie nach Enkelkindern. Mit fünf Töchtern standen die Chancen dafür recht gut, aber bislang kündigten sich keine an. Meine Schwestern und ich waren noch jung, aber meine Mutter machte keinen Hehl aus ihrer Ungeduld und der Neugierde auf unsere Geburtserlebnisse.
    Ich verschwendete damals keinen Gedanken daran, Kinder zu bekommen. Aber ich dachte sehr viel an Sex. Und meine Vorstellung von Sex war untrennbar verknüpft mit Ray Dickerson.
    Beinahe fünf Jahre waren vergangen, seit mir Ray auf dem Parkplatz mit der Zunge die Erdbeere in den Mund geschoben hatte, aber ich hatte diese Szene zigmal vor meinem inneren Auge Revue passieren lassen. Und hatte mir weitere Szenen dazu ausgedacht.
    Ich sah uns beide alleine in einem Zimmer. Ray war nackt, und ich zeichnete ihn.
    Damals machte ich gerne Umrisszeichnungen – eine Zeichenform, die ich heute auch meinen Schülern in meinen Kunsttherapiegruppen beibringe. Dabei soll man den Blick nicht von dem Gegenstand oder der Person abwenden, die man abbilden will. Man zeichnet, ohne abzusetzen, die Umrisse einer Blumenvase, einer Kaffeekanne – oder in meiner Fantasie den nackten Ray Dickerson.
    Das heißt, dass man in einer einzigen Linie das Wesen des Objekts einzufangen versucht. Die Darstellung wird vermutlich ziemlich verzerrt ausfallen, dabei aber den Charakter eher erfassen, als wenn man immer wieder auf den Block schaut, radiert und ausbessert, um Abstände korrekt wiederzugeben.
    In meiner Fantasie war Ray Dickerson mein Modell, aber er hatte die Regeln bestimmt. Ich durfte ihn nur anschauen, nicht berühren. Anfänglich hatte ich kein Problem mit diesen Vorgaben. Ich stand, vollständig bekleidet, an einem Tisch und ließ den weichen Bleistift über das Papier wandern, ohne den Blick von Ray abzuwenden. Er hatte natürlich einen wunderschönen Körper. Und dann diese Augen.
    Ausschlaggebend für eine gute Umrisszeichnung ist die Bewegung der Hand – die Geschwindigkeit, mit der die Linie entsteht, in der die Bewegung der Augen beim Betrachten des Objekts wiedergegeben wird. Wenn mein Blick in dieser Fantasie dann unterhalb Rays Gürtellinie angelangte, wo sein Schamhaar begann, spürte ich immer, wie meine Haut heiß wurde und mein Körper reagierte.
    An diesem Punkt wurde meine Vorstellung dann etwas vage. Wenn Victor Patucci und ich unsere Eisbecher aufgegessen hatten und in seinem Auto landeten, hatte ich zwar schon einen nackten Männerkörper berührt, aber noch nie einen gesehen.
    Früher hatte mich das auch nicht interessiert. Jetzt allerdings schon.
    Mein ganzes Leben lang hatte ich mich bemüht, eine gute und anständige Tochter zu sein. Dieses Mädchen in meinen Fantasien allerdings war alles andere als anständig und gar nicht so, wie meine Mutter sich ihre Töchter wünschte. Das Mädchen aus meinen Tagträumen trug dunkle Leidenschaften in sich, die meine Mutter zweifellos dem Teufel zugeschrieben hätte. In dieser Fantasieszene betrachtete ich jedenfalls irgendwann die fertige Zeichnung von Ray Dickerson und berührte sie mit den Lippen.
    »Gut gemacht, Ruth«, sagte er und streckte die Arme aus. »Und jetzt komm zu mir.«

Dana
    Geldsegen
    D as letzte Patent, das George meines Wissens nach erwarb, war für eine Gerätschaft, die er »das sprechende Gitarrenstimmgerät« genannt hatte. Er hatte es für Menschen entwickelt, die Gitarre spielen wollten, aber kein musikalisches Gehör hatten – was beides auch für ihn galt. In das Gerät waren eine Stimmgabel und eine Minikassette eingebaut. Wenn man nun die Gitarre stimmte, sagte eine Frauenstimme: »Das ist etwas zu hoch.« Oder: »Beinahe richtig, nur den Knopf noch etwas gegen die Uhrzeigerrichtung drehen.« Dies sei die beste Idee, die er je gehabt habe, sagte George zu Val. »Und jetzt brauchen wir nur noch auf den Geldsegen zu warten«, verkündete er.
    Kurz nach meinem Schulabschluss beschlossen George und Val, dass wir nach St. Pete Beach in Florida ziehen würden, weil George meinte, das warme Klima sei kreativer Arbeit förderlich. Wie sich später herausstellte, war dies der letzte gemeinsame Umzug der beiden. Als wir uns dort angesiedelt hatten, war der erwartete Geldsegen immer noch nicht eingetroffen, und George begann wieder Songs zu schreiben. Er hatte ein neues Country-Duo im Radio gehört – eines dieser Paare, das nach einem einzigen Hit wieder spurlos verschwand. Aber wie diese beiden Stimmen sich

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