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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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nicht wahr?«
    Als ich ihn ansah, verstand ich, dass die Frage überflüssig war. Mein Vater hatte zwar inzwischen die Namen seiner Schwiegersöhne und seiner Enkel vergessen. Aber die Nachricht von Val Dickersons Tod schien einen Ort in ihm berührt zu haben, an dem es noch Erinnerungen gab – einer Stelle auf einem Feld gleich, an der im Herbst noch ein paar dürre Stauden standen und die Erde nicht umgepflügt worden war.
    »Sie war eine ganz besondere Frau«, sagte er. »Groß.«
    »Einmal sind sie eigens aus Vermont hergekommen, um Erdbeeren zu kaufen«, sagte ich und dachte wieder an Ray. Diese Nachricht erschütterte nicht nur meinen Vater, sondern löste auch bei mir eine Flut von Erinnerungen aus. »Und wir haben immer diese verrückten Touren gemacht, um Dickersons zu besuchen. Haben stundenlang im Auto gehockt und ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹ gespielt und nach besonderen Nummernschildern Ausschau gehalten. Und das alles für ein Glas Limonade und eine Tasse Rührkaffee. George war so gut wie nie da, und ich hatte eigentlich das Gefühl, dass Val sich gar nicht über unsere Besuche freute.«
    »Deine Mutter hat sich nie gut verstanden mit Val Dickerson«, sagte mein Vater mit erstaunlichem Nachdruck. »Aber sie wollte immer Kontakt halten. War eine komische Geschichte.«
    Er verstummte. Im Fernsehen legte Oprah Winfrey einer Frau, die sich gerade zu ihrer Essstörung bekannt hatte, die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie es raus«, sagte Oprah. »Es tut gut, darüber zu reden.«
    »Ich frage mich, was Dana Dickerson jetzt so macht«, sagte ich. Dann fiel mir auf, dass dies die Formulierung meiner Mutter war, die ich immer verabscheut hatte. Und nun verhielt ich mich selbst so.
    »Sie hat gerne Bilder gemalt«, sagte mein Vater, zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Und sie roch immer so gut.«
    »Erinnerst du dich noch an ihren Sohn, Ray?«, fragte ich. Jahrelang hatte ich seinen Namen nicht mehr erwähnt, aber hier in diesem Zimmer, in Anwesenheit eines Mannes, der Vergangenheit und Gegenwart wohl inzwischen als eine Art undurchdringlichen Nebel erlebte, wagte ich es, den Namen auszusprechen. Ich wollte spüren, wie er sich in meinem Mund anfühlte. Und meinem Vater in seinem jetzigen Zustand hätte ich alles erzählen können.
    Als ich vierzehn war, hat er mir mit der Zunge Erdbeeren gefüttert.
    Wir haben zusammen in Kanada in einer Hütte gelebt. Damals glaubte ich, dass wir nie mehr getrennt sein würden. Wir bekamen ein Kind.
    »Blonde Haare«, sagte mein Vater. »Ein Jammer, dass du sie nicht kanntest.«
    Später rief ich David Jenkins an, Vals Mann – den Geschäftsmann, dessen toten Golden Retriever Val gemalt hatte. Val und ihr Mann hatten auf Rhode Island gelebt, wo sie Yoga lehrte und abends Malkurse an der Rhode Island School of Design besuchte. Als Val starb, musste sie um die siebzig gewesen sein, was ich mir kaum vorstellen konnte – ich hatte sie immer noch so jung und schön in Erinnerung.
    Da auch Dana schon vor Jahren nicht gewusst hatte, wo ihr Bruder sich aufhielt, nahm ich an, dass er nicht zur Beerdigung kommen würde, worüber ich froh war. Einerseits sehnte ich mich noch immer danach, ihn wiederzusehen. Andererseits fand ich die Vorstellung, dass er mich in meinem jetzigen Zustand sehen würde, entsetzlich. Manche Frauen sehen schön aus, wenn sie schwanger sind, aber ich war einfach nur fett.
    Wie sich dann herausstellte, konnte ich schließlich gar nicht zur Beerdigung fahren. Am Morgen dieses Tages setzten die ersten Wehen ein, und am Nachmittag hatte ich die Geburtswehen. Aber meine Schwestern nahmen an der Bestattung teil.

Dana
    Abschied
    N ach der Diagnose wurde alles andere in unserem Leben unwichtig. Ich molk die Ziegen und goss die geronnene Milch in Käseformen, erntete die Erdbeeren, jätete Unkraut und bestückte unseren Verkaufsstand. Nur die Zinniensträuße, die wir immer auf den Selbstbedienungsstand an der Straße gestellt hatten, pflückte ich nicht mehr. Das war zu aufwendig und brachte kaum etwas ein.
    Clarice verhielt sich in der ersten Zeit so, als hätte sich nichts geändert. Da sie diese Verdrängung offenbar wollte, rührte ich nicht daran. Wir würden diesen Zustand ohnehin nicht mehr allzu lange aufrechterhalten können.
    Ich versuchte mich so normal wie möglich zu verhalten. Als ich den Anruf mit der Nachricht von Vals Tod bekam – ihren zweiten Ehemann hatte ich kaum gekannt –, tippte ich gerade Aufzeichnungen von

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