Das Leben Findet Heute Statt
wählten den Schwerpunkt «Gebet und Meditation» als Ausgangspunkt für die Reform des Franziskanerordens im 16. Jahrhundert. Bis heute hat sich diese Sehnsucht, die hinter den Wünschen nach Veränderung steckte, erhalten: Die Brüder möchten aus der Versenkung im Gebet an ihre Aufgaben gehen. Eine volle Stunde am Tag, so bestimmen es die Lebensregeln unseres Ordens, wollen wir in der Betrachtung verharren: Wir stellen uns der Gegenwart Gottes und gehen immer und immer wieder das Leben Jesu durch, indem wir Sätze des Evangeliums immer und immer wiederholen. Nach langer Übung geht das so in Fleisch und Blut über, dass es einem gar nicht mehr so vermessen vorkommt, wenn der Apostel Paulus im Brief an eineGemeinde in Galatien schreibt: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir!» . (Gal 2,20)
Man darf sich das allerdings nicht so vorstellen, dass der Fortschritt im Gebet ein geradliniger Weg ist. Es kommt geradezu darauf an, zu verlernen, sich zu kontrollieren, wie weit man schon gediehen ist. Die Entwicklung findet kaum merklich statt. Sie ereignet sich nach Gesetzen, die im Leben eines jeden Menschen zu einem ihm eigenen Weg führen. Damit sich dieser Weg ungestört mit allen Höhen und Tiefen entwickeln kann, greifen wir Kapuziner gern den Rhythmus des kirchlichen Stundengebets auf. Wir treffen uns zu festgesetzten Zeiten zu den «Laudes» am Morgen. Das lateinische Wort bedeutet so viel wie Lobgesänge und erinnert an die Wurzeln der katholischen Gottesdienstpraxis in der jüdischen Liturgie. Der Lobpreis aus dem biblischen Buch der Psalmen nimmt in diesem Morgengebet, aber auch beim Mittags- und Abendgebet, den größten Raum ein. Sie werden in anderen Orden oft gesungen; bei uns ist das seltener der Fall. Unsere Gründerväter meinten, wir sollten nicht so lange singen und die ersparte Zeit lieber auf die Meditation verwenden.
Selbst in der Eucharistiefeier beziehen wir uns auf die jüdische Tradition. Das Abendmahl hat Jesus ja im Rahmen einer ordentlichen jüdischen Paschafeier mit seinen Jüngern gehalten. Der Grund dafür ist leider in der Vergangenheit viel zu oft unter den Tisch gekehrt worden: Jesus war Jude. Jesus hat die jüdischen Gebete gesprochen. Wie könnten Christen anders beten als mit ihm und in dieser Tradition? Wenn wir es tun, dann fühlen wir uns ihm am nächsten.
Auch die Einteilung des Tages durch Gebetszeiten entstammt diesem Brauch. Es ist gar nicht so etwas Besonderes, dass in Klöstern in dieser Weise gebetet wird. Das gehört zumChristentum. Und schon vor dem Christentum gehörte es zum Judentum. Und nach dem Judentum und Christentum zum Islam. Selbst der Blick auf andere Kulturen zeigt: Auch diese Religionen kennen heilige Zeiten der Stille am Tag, an denen die Geschäfte ruhen und man sich dem Sinn des Lebens zuwendet. Und noch mehr: Der heilige Tag in der Woche gehört dazu, bei den Christen am Sonntag, bei den Juden am Samstag, dem Sabbat, und bei den Muslimen am Freitag. Solche heiligen Zeiten gibt es während des Jahres auch zu den Festen, die jede Religion ausgiebig begeht. Und schließlich überliefern die Religionen auch noch eine besondere freie Zeit pro Leben. Die Wallfahrt des Moslems nach Mekka, des Juden nach Jerusalem oder des Christen nach Rom oder, so wie es wieder fast zu modern geworden ist, nach Spanien, um sich für Monate zu Fuß als Pilger zum Jakobsgrab in Santiago de Compostela aufzumachen.
Für mich ist jeder Weg zum Chorraum ein kleiner Pilgerweg. Ich muss mich losreißen von dem, was sich mir gerade wieder aufgedrängt hat, weil dort im Gebet etwas Wichtigeres auf mich wartet. Gott ist mehr wert als die Seite, die ich gerade zu Ende schreiben muss, als das Telefonat, das kurz vor zwölf noch hereinkommt, oder der Flur, der eigentlich in zehn Minuten fertig geputzt sein sollte. Alles stehen- und liegenlassen, aufbrechen und zum Gebet gehen – wenn es gelingt, was meistens der Fall ist, ist es immer ein Schritt in die Freiheit.
Wenn ich gefragt werde, wie oft wir beten müssen, kontere ich gern: Und wie lange müssen Sie küssen, Ihre Kinder erziehen oder in der Sauna sein? Für uns Kapuziner ist wie für alle, die Gott erwählt haben, das Gebet ein Schritt auf den zu, der uns das Leben mit allem, was darin möglich ist, gegeben hat. Gott und Alltag gehören für uns zusammen. Immer wieder loslassen, zu Gott gehen und dann wieder ins pralle Leben eintauchen istder Rhythmus, der unser Leben ist, so wie das Ein- und Ausatmen Lebensenergie
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