Das Leben Findet Heute Statt
Evolution lehre das. Auch da habe sich immer der Stärkere durchgesetzt.
Ich werde wütend, wenn ich das höre. Ich bin doch keine Amöbe und auch kein Panther, kein Kapuzineraffe und auch kein Wolf. Es ist dumm, die Biologie heranzuziehen, um ein menschliches Verhalten zu legitimieren. Richtig ist, dass die Naturwissenschaftenvieles erklären können. Aber sie müssen bei ihrem Fach bleiben. Aus der Tatsache nämlich, wie etwas im Reich der Natur ist, darf man keine Moral für die menschliche Gesellschaft ableiten. Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Auch wenn sich in der Evolution immer das Überlebensfähigere durchsetzen mag: Es gehört ebenso zur Natur, dass sie immer wieder Schwache hervorbringt. Manche Lebewesen, die stark sind, brauchen sogar Schwache, um überleben zu können, etwa in symbiotischen Beziehungen. Doch davon einmal ganz abgesehen: Wer wollte denn behaupten, der Mensch sei das Stärkste, was die Natur hervorgebracht hat? Wenn schon stark, dann stark darin, die Natur selbst zu schwächen. Stark vielleicht darin, sich immer perfidere Methoden auszudenken, seinesgleichen zu zerstören, immer mit dem Argument, für eine bessere Zukunft eintreten zu wollen. Das hat niemandem geholfen, der von den Bessere-Welt-Verkündern in den Revolutionen Frankreichs, Russlands oder Chinas ermordet wurde. Im Irak, im Sudan, in Albanien oder im Kosovo ist die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände der Ernüchterung gewichen: Auch dort wird nur gefördert, was dem Geldbeutel derer dient, die, so scheint es oft, vor allem die eigene Stärkung durch die Ausweitung von Absatzmärkten im Blick haben.
Das Bessere ist, so gesehen, tatsächlich der Feind des Guten. Der Ruf «Zurück zur Natur!» dient den Heuschrecken, Haifischen, den Bullen und Bären der Börse zur Legitimation ihres blindwütigen Vertrauens auf die starren Gesetze der Mathematik. Es mutet schon bizarr an, die ähnlich wie Tempel gebauten Bankenzentralen zu sehen, in denen der Gott der Moderne angebetet wird: das unendlich, ja ewig wichtige Kapital. Ihm zu dienen, dazu ist jedes Mittel recht. Ihm opfert man. Die Mühsal jahrzehntelanger Überstunden und ständiger Stress bei der Arbeit sind Alltag. Der einzige Trost liegt darin: Später werde ichdann so reich sein, dass ich mir alles leisten kann und nie mehr arbeiten muss.
Wenn wir nicht umdenken, schaffen wir uns noch selbst ab. Sieg den Amöben! So gesehen wird die Behauptung, die Natur habe durch die Evolution, strebend nach immer höherer Vollkommenheit, den Menschen hervorgebracht, durch den Menschen selbst widerlegt. Es bringt doch keiner hervor, was ihn selbst umbringen kann! Die Rede von Natur und Evolution ist in dieser Hinsicht mindestens ebenso mythisch wie die Rede von Gott und Jesus. Von Jesus heißt es ja auch, er sei das Urbild der Menschen; und er wird von denen umgebracht, die eigentlich durch ihn geschaffen wurden.
Was immer die Naturwissenschaften an Erkenntnis erzielen: Es bringt mich zum Staunen. Ich habe in der Oberstufe des Gymnasiums gern den Leistungskurs Biologie belegt. Faszinierend, was wir Menschen alles herausgefunden haben. Vermutlich werden wir damit noch lange nicht an ein Ende kommen. Jede Antwort bringt neue Fragen hervor. Sie öffnen Horizonte, die vorher unbekannt waren. Schon deswegen ist jeder Naturwissenschaftler gut beraten, ganz im Heute zu forschen. Wer schon jetzt weiß, was er im nächsten Jahr entdeckt haben will, setzt sich der Gefahr aus, die wichtigen Details heute zu übersehen, die in eine ganz andere Richtung des Fragens weisen wollen. So hatte der chinesische Wissenschaftler Hwang Woo Suk seinen Erfolg im therapeutischen Klonen nur vorgetäuscht und wurde als Betrüger verurteilt. Sein Fall barg dann noch wie zum Beweis meiner These eine Ironie der Forschungsgeschichte: Vor lauter Ehrgeiz beim Experiment des therapeutischen Klonens haben Hwang und sein Team ihren tatsächlichen wissenschaftlichen Durchbruch schlicht übersehen. Sie entwickelten im Lauf des manipulierten Versuchs ein Verfahren, mit dessen Hilfe das gesamte Genom einerembryonalen Stammzelle auf bestimmte Muster untersucht werden kann, die dessen Herstellungsprozess verraten. Auf diese Weise gewannen sie erstmals parthenogenetische Stammzellen und hätten es schon mit dieser Entdeckung auf die Titelblätter der Science oder Nature bringen können. Weil sie aber, um ein vorher festgelegtes «Ergebnis» zu «beweisen», Labordaten manipulierten, Angaben in Forschungsaufsätzen
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