Das Leben in 38 Tagen
aber ich konnte ihn nicht einfach
ignorieren. Das schaffte ich nicht. Ich konnte nur versuchen, mich abzulenken
oder diese Leere zu erreichen. Ob dann mein Körper noch etwas sagen würde? Und
mein Herz? Meine Seele? — Anderes Thema bitte...
Ich dachte darüber nach, wie
unterschiedlich die einzelnen Orte doch aussahen, wie verschieden die
Gaststätten und die Menschen waren, wie gut es tat, entscheiden zu können, ob
man allein laufen wollte oder nicht, wo man einkehren wollte oder nicht...
Für einige Menschen in den armen Dörfern
hier bot der Pilgertourismus auf jeden Fall eine Chance, in ihrer Heimat Geld
verdienen zu können, oder er half dabei, das Beste aus ihrer Situation zu
machen. Mir fiel die kleine Gaststätte in dem winzigen Dorf Cardeñuela de Ríopico von vorgestern ein, die ein älteres Ehepaar mit
einer erwachsenen, behinderten Tochter betrieben hatte. Dort war mir anfangs
der brubbelige , stoppel-bärtige Wirt und seine
stimmgewaltige, resolute Frau — beide mit auffallenden Zahnlücken — ziemlich
unfreundlich vorgekommen, während die Tochter den ganzen Nachmittag auf einem
Stuhl vor dem Haus auf neue Gäste zu warten schien.
Bei jedem der neu ankommenden Pilger sprang
sie freudestrahlend auf und begrüßte ihn mit einem freundlichen Lachen und
einem kräftigen Handschlag. Dabei hatte sie einen mitreißenden Spaß daran,
jedem ihren Ausweis mit ihrem Foto und ihrem Namen zu zeigen. Das war ihre Art
der Vorstellung. Wenn sie daraufhin der Pilger mit ihrem Namen ansprach und
sich selbst vorstellte, war die Freude perfekt. Während ihr Vater dann hinter
der Theke stand und uns nebenbei noch Bananen und Orangen verkaufte und die
Mutter in der Küche reichlich Essen für uns kochte und auftrug, saß sie ganz
ruhig an einem Tisch und beobachtete lächelnd das muntere Treiben im Gastraum.
Eigentlich fiel sie mir erst wieder auf, als die Wirtin sie nach dem Abräumen
an der Hand nahm und mit ihr nach Hause ging. Da lächelte sie immer noch und
winkte uns zum Abschied. Auf einmal kamen mir die beiden Wirtsleute gar nicht
mehr so unfreundlich vor...
Der Regen wurde stärker und auf dem Lehmweg sammelte sich das Wasser. Zum Glück ging es fast
nur geradeaus; ich hatte die Anfänge der berüchtigten Hochebene, der Meseta,
erreicht. Also brauchte ich erst einmal keine Angst vor schattenlosen Wegen zu
haben. Allerdings bot sich mir damit auch keine Unterstellmöglichkeit für den
Regen an. Nur grüne Felder und graue, tief hängende Wolken, so
weit das Auge reichte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ohne
Unterbrechung so schnell wie möglich zu laufen, um im nächsten Ort endlich
meinen Rucksack einmal abnehmen zu können. Stapf-platsch, stapf-platsch,
stapf-platsch!
Nach zwei Stunden im strömenden Regen, wo
man nicht mehr wusste, wo man sich befand, und krampfhaft nach einer
Orientierung außerhalb eines matschigen Weges suchte, stand ich auf einmal auf
einer Anhöhe. Und tatsächlich, da unten sah man Bäume an einem Fluss und
dahinter ein lang gezogenes Straßendorf! Das musste Hornillos del Camino sein!
Nun hieß es nur noch die rutschige Anhöhe
hinunterzukommen, ohne zu fallen, die Landstraße und den Fluss zu überqueren
und dann in Richtung Kirche zu laufen, denn dort sollte sich die Pilgerherberge
befinden. Meine Stöcke leisteten mir dabei wieder einmal gute Dienste, aber ich
war schon froh, endlich heil in Sichtweite des Ortseingangsschildes angelangt
zu sein.
Als ich gerade die ersten Häuser des Ortes
hinter mir gelassen hatte, stand plötzlich mitten auf der Dorfstraße und im
strömenden Regen ein junger Mann vor mir: „ Habitación libre ! Do you need a room ?“
„I just want to sleep in the auberge !”, antwortete ich etwas irritiert, denn
bisher hatte mich noch niemand wegen einem freien Zimmer angesprochen und noch
dazu ein junger, gut aussehender und gut gekleideter Mann! Er schien so gar
nicht in das alte, einfache Dorf zu passen, aber er drückte mir unbeeindruckt
von meiner Ablehnung eine Karte in die Hand: „ It’s a very good room , it’s the last!“ Ich überlegte:
„ How much ?“ Er antwortete
etwas, was ich als dreizehn Euro verstand, und ich sagte ihm, dass ich mir erst
einmal die Gemeindeherberge ansehen wollte und dann eventuell zurückkommen
würde.
In Spanien sieht man häufig diese
Straßendörfer, in denen sich die alten Natursteinhäuser in immer gleicher
Bauweise aneinanderreihen wie in einer Kleinstadt; nur selten gibt es einen
Garten dazwischen.
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