Das Leben ist ein Kitschroman
verschwunden.
»Was ist denn passiert?« Erschrocken beugte ich mich hinunter und sah, wie er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Wade rieb.
»Ein Krampf«, stöhnte er und versuchte das Bein zu strecken. »Oh verdammt, tut das weh!«
»Vielleicht solltest du lieber versuchen aufzustehen. Bei mir hilft das immer.«
Carsten schüttelte den Kopf. »Lass mal. Ist sicher gleich wieder vorüber.«
Also tauchte ich wieder auf. Gerade rechtzeitig, um dem verdutzten Kellner zu versichern, dass das Essen wunderbar gewesen sei und mein Begleiter noch lebte.
Ein paar Minuten später war alles wieder in bester Ordnung. Carsten hatte keine Schmerzen mehr und wir überlegten, mit welcher Hauptspeise wir weitermachen wollten. Ich hatte mich für Rieslinghuhn entschieden und beobachtete Carsten, der die Karte rauf- und runterstudierte. In Gedanken zog ich ihn ganz langsam aus und war gerade dabei, ihm den Gürtel zu öffnen, als mich der Satz »Ich nehme heute Steak!« in die Gegenwart zurückkatapultierte.
Carsten sah mich neugierig an. »Woran hast du gerade gedacht? Du hast richtige Plüschaugen.«
»Wie bitte?« Ich fühlte mich regelrecht ertappt.
»Du hast ganz verträumt geschaut!« Er nahm meine Hand und küsste die einzelnen Fingerkuppen. »So, als würdest du ...«
Der restliche Satz blieb unausgesprochen, weil sein Handy den Eingang einer SMS meldete. Carsten langte in seine Hosentasche, las die Nachricht und seufzte tief. »Mist!« Er klappte das Telefon zusammen und sah mich enttäuscht an. »Eine Nachricht vom Hundezüchter.«
»Hundezüchter?«
»Ich betreue seit einiger Zeit die Hunde eines Labradorzüchters und eine der Hündinnen kriegt bald ihre Jungen. Beim letzten Wurf hat es erhebliche Probleme gegeben und daher sind die Leute im Augenblick ziemlich nervös. Ich hatte ihnen versprochen, dass sie mich jederzeit anrufen können, und das...« Er zeigte auf sein Handy. »Kommt nicht immer gelegen, wie du gerade siehst.«
»Und wie lange wirst du dortbleiben müssen?«
»Kommt drauf an, wie es der werdenden Mutter geht«, sagte Carsten. »Aber ich muss leider gleich aufbrechen.«
Das war's dann wohl mit der Erotik.
»Ist doch nicht so schlimm«, sagte ich tapfer. »Dann heben wir uns den Hauptgang eben fürs nächste Mal auf.«
»Danke, dass du Verständnis für mich hast«, sagte Carsten, als wir kurz darauf wieder in der Jakobsgasse standen. Er nahm mich in die Arme und küsste mich. Lang und leidenschaftlich. »Ich melde mich morgen gleich bei dir. Okay?«
18
Nachdem die Bahn direkt vor meiner Nase weggefahren war, rief ich Marie an. »Na, alles für Madeira gepackt?«
»Hör auf, totale Katastrophe!«, stöhnte meine Freundin. »Ich habe keine Ahnung, wie ich den ganzen Kram in den Koffer kriegen soll. Und Big legt sich dauernd mittenrein. Der spürt ganz genau, dass ich wegfahre, und das passt ihm überhaupt nicht.«
Ich lachte. »Ich habe auch gerade Hundeprobleme.« Und ich erzählte, was passiert war.
»Oje, das ist ja blöd«, sagte Marie. »Aber denke an meine Tante Else. Die sagte immer: Vorfreude ist die schönste Freude.«
»Halte diese Tante lieber von mir fern«, brummte ich. »Sonst muss ich ihr gehörig die Meinung pfeifen.«
»Schmetterlinge im Bauch?«
»Ganze Horden.«
»Na ja, das ist auch kein Wunder nach einer so langen Abstinenz«, fand Marie. »He, ich hoffe, dass morgen alles nach Plan läuft und wünsch dir viel Glück!«
»Dir viel Spaß auf der Insel«, sagte ich. »Und schick mal ne Ansichtskarte!«
Kurz bevor ich zu Hause war, hatte sich meine Enttäuschung wieder einigermaßen gelegt. Schade, dass die Viecher uns heute einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten. Aber gut, morgen war schließlich auch noch ein Tag.
Aus einer der Kneipen in der Georgenstraße drang der Shoop-shoop-Song von Cher nach draußen. Sofort dachte ich an Carstens heiße Küsse und sang den Text leise mit:
»If you want to know
If he loves you so
It's in his kiss, that's what it is!«
Bei den letzten Worten hatte ich unseren Hinterhof erreicht und kramte in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel, als im zweiten Stock das Fenster aufgerissen wurde. Ich hörte Inekes wütende Stimme.
»Ich hasse dich!«, schrie sie. »Und ich will dich nie wiedersehen, hast du kapiert?«
Im nächsten Augenblick musste ich zur Seite springen, sonst wäre ich von einem Stiefel getroffen worden.
»Ich hasse dich!«
Weitere Kleidungsstücke segelten in den Innenhof: Jeans und Jacke,
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