Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
Überraschung antworte ich: »Jean-Pierre.«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Das ist ja ätzend.«
»Danke.«
Sie versucht es wiedergutzumachen, sehr zartfühlend: »Ich meine, nein, es ist nicht totaaal ätzend … Es ist halt ein Name für Alte.«
»Gut beobachtet. Darf man fragen, warum du das wissen willst?«
»Einfach so.«
Die nächste Pause. Endlos. Mein Blutdruck schlägt neue Rekorde, mein Herz klopft bis in die Schläfen, ich werde an einem Schlaganfall krepieren, diese Göre ist eine Landplage, sie hat die Gabe, mich zur Weißglut zu bringen. Schließlich sagt sie: »Ich mag lieber Brad oder Justin.«
»Dschastin« spricht sie es aus.
Dschastin.
Was du nicht sagst.
»Oder Britney. Für ein Mädchen.«
Nett von ihr, dass sie das dazusagt. Sie scheint davon auszugehen, dass alle Leute über sechzig einen Hirnschaden haben. Ich frage mich, wie ich sie mir vom Hals schaffen kann, als sie plötzlich aufsteht und sagt: »Ich muss nach meinem Zimmer. Der Arzt kommt vorbei.«
»
In mein
Zimmer.«
»Was?«
»Es heißt: ›Ich muss
in mein
Zimmer‹, und nicht ›Ich muss nach meinem Zimmer‹ …«
Sie verzieht den Mund und antwortet: »So ’n Quatsch.«
Unverschämt und dumm.
»Doch, doch, das kannst du mir glauben!«
»Nö, würde mich wundern. Wozu soll das gut sein?«
Tja.
Was soll man dem hinzufügen?
M ein Zimmer ist zu einem Salon geworden, in dem man sich zur Konversation trifft.
Heute Morgen die Rotzgöre, die sich in Linguistik auskennt. Und heute Nachmittag der junge Polyp. Er kommt alle zwei, drei Tage vorbei und unterhält sich mit mir über dies und das. Ich hätte ihn beinahe gefragt, warum er mich eigentlich besucht, aber dann habe ich es mir doch verkniffen. Ich möchte nicht, dass er darüber ins Grübeln gerät, es sich vielleicht anders überlegt und nicht mehr wiederkommt.
Er tritt ein, schüttelt mir die Hand, wirft einen Blick auf das Buch, das ich gerade lese, zieht den Stuhl heran, setzt sich. Manchmal bleibt er auch am Ende des Betts stehen und stützt sich mit den Armen auf das Metallfußteil.
Wir scherzen, wir philosophieren.
Wir haben herausgefunden, dass wir einiges gemeinsam haben: Wir mögen alte Western, englische Komödien, historische Romane, gutes Essen und guten Wein.
Wir reden über das Leben und die
Gesellschaft
, diesen Oberbegriff für alles, was in einer Gruppe zusammenlebt: Ameisen, Jäger, Holdings, Bürger eines Landes.
Ich spreche das Thema Camille an: »Haben Sie schon mal was von ›Gelegenheitsprostitution‹ gehört?«
»Ja, natürlich. Das ist ein relativ neues Phänomen bei den Studenten, aber es nimmt zu. In unserem Bezirk kommen jedes Jahr zwei oder drei Neue dazu. Wir bemerken sie meistens schnell, aber na ja … Wir lassen sie im Prinzip in Ruhe. Solange sie sich ruhig verhalten und keine Drogen im Spiel sind …«
»Mmmhhh.«
»Was sollten wir auch tun? Ihnen eine Strafe aufbrummen? Wie sollten sie die bezahlen?«
»Aber finden Sie das denn normal?«
Er wühlt unentschlossen in seinem spärlichen Bart herum.
»Äh, sich zu prostituieren, meinen Sie?«
»Nein, das tun zu müssen, um sein Studium zu finanzieren!«
»Ach! Wenn ich Ihnen sagen würde, was ich alles nicht normal finde, Herr Fabre! Natürlich nicht! Nein, das ist nicht ›normal‹.«
Der Bursche wächst mir langsam ans Herz.
Ich sage ihm, meiner Meinung nach könne man den Zustand einer Gesellschaft danach beurteilen, welchen Platz sie den Jungen und den Alten einräumt. Ich bin da Spezialist: Ich habe keine Kinder. Und was man mir im Greisenalter für ein Los bereiten wird, das warte ich mit großem Interesse, aber ohne allzu viele Illusionen ab. Junge Leute wie Camille sind keine Schuldigen, sondern eher Opfer. Sie sind beunruhigende Symptome, Ausdruck eines tieferen Übels. Eine Begleiterscheinung. Der Samt des Schimmels, der die Fäulnis verrät.
Maxime stimmt mir zu.
Er fügt hinzu: »Na ja, aber trotzdem … Sie könnten doch auch irgendwie anders Geld verdienen.«
»Genug verdienen, um unabhängig zu sein und ohne dafür ihre Seminare sausenzulassen?«
»Manche tun das doch, oder? Sie wissen schon, Studentenjobs, Babysitten, McDonald’s … Solche Sachen eben!«
»Ob Sie es glauben oder nicht, den Statistiken zufolge haben diejenigen, die regelmäßig jobben, geringere Chancen, ihr Studium abzuschließen. Für mich ist das auch neu: Ich habe es erst gestern Abend im Internet gelesen.«
»Oh, ich glaube Ihnen, ich glaube Ihnen. Es
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