Das Leben ist eine Oeko-Baustelle
Rede auf den »bundesweit bekannten Handwerksmeister«, obwohl das protokollarisch nicht vorgesehen ist. Mich empfängt der Oberbürgermeister ganz normal und sehr herzlich in seinem Amtszimmer im ehrwürdigen Rathaus im Zentrum der Altstadt. Mit Blick auf den Tübinger Marktplatz.
An Palmer interessiert mich nicht, dass er der vermutlich bekannteste Oberbürgermeister einer Stadt unter einer Million Einwohner in Deutschland ist. Auch nicht, dass er der Partei Die Grünen angehört. Mich interessiert er, weil er der erste Politiker war, der sein Amt mit einem Programm gewann, in dem er den Kampf gegen den Klimawandel in den Mittelpunkt stellte. Er wollte die Geistesmetropole Tübingen zur ökologischen Vorzeigestadt des 21. Jahrhunderts machen. Das war Ende 2006 und da war er 34 Jahre alt. Seit Januar 2007 ist er im Amt, seit 2008 läuft die Klimaschutzkampagne »Tübingen macht blau«. Das bezieht sich darauf, dass »Blau« inzwischen die Farbe des Klimaschutzes ist. Palmers Ziel ist es, dass jeder Tübinger bis 2020 im Vergleich zu heute minus 70 Prozent Energie verbraucht.
Unerreichbar!, würde ein Zyniker oder vielleicht auch nur ein Realist sagen. Palmers Erkenntnis ist: Man braucht weder Land, Bund oder EU noch Kyoto-Protokoll oder Weltregierung, um als Kommune 70 Prozent weniger Kohlendioxid auszustoßen. Man kann das als Stadt schaffen – mit der richtigen Kommunalpolitik. Die Leute müssen auch nicht verzichten, nur mitmachen.
Dafür aber braucht es eine Schnittstelle, eine Weiche zwischen den Bürgern und der Politik, die an einer entscheidenden Stelle sitzt und politisch umschaltet in eine »blaue« und grüne Zukunft. Ist der Oberbürgermeister Palmer so eine Weiche? Das will ich wissen. Auf Fotos sieht man Palmer häufig mit grünem Hemd oder blauem Anzug. Das ist offenbar sein symbolischer Dresscode für bestimmte politische Inhalte. Heute ist er ganz in Schwarz gekleidet.
»Sie wollen den Klimawandel mit neuen Technologien aufhalten und nicht damit, dass wir Menschen verzichten, Herr Palmer. Warum?«
Palmer lächelt: »Wenn man Verzicht predigt, ist man im Sektiererbereich. Man muss ziemlich ambitionierte Ziele verfolgen, aber dabei Rücksicht auf die Mentalität der Leute nehmen.«
Ich sage: »Warum glauben Sie so sehr an die Wirtschafts- und Wohlstandschance mit grünen Technologien und Produkten?«
»Das ist das Feld der ökologischen Politik, wo auch die größten Investitionen in den nächsten Jahren erforderlich sind. Es hört sich anders an, ob man sagt: Ihr müsst CO 2 einsparen, oder ob man sagt: Ihr müsst endlich auf die Baustelle und einen Auftrag ausführen. Wenn es gelingt, mit dem Retten der Welt reich zu werden, ist das die ideale Kombination.«
Jetzt bin ich doch etwas verblüfft. »Ist das in Ihrer Partei mehrheitsfähig?«
»Kann sein, dass man da aus protestantisch-pietistischer oder aus linker Sicht Bedenken hat, aber ich sehe das pragmatisch: Die Mehrheit der Leute strebt eher nach Reichtum als nach seelischer Erbauung oder Lektüre der taz . Es ist daher sogar die Idealvorstellung, das ganze Streben nach Reichtum, das so viele Menschen antreibt, im Sinne des Klimaschutzes nutzbar zu machen. Das ist die beste Garantie für den Erfolg.«
»Ich dachte, Kapitalismus funktioniert immer auf Kosten anderer, der Armen, der südlichen Länder, der Umwelt.«
»Schlimm ist es dann, wenn das gegeneinanderläuft: Wenn man nur in Armut das Klima schützen kann – was ja nicht so falsch ist, wie die soziologischen Untersuchungen zeigen. Ein umweltbewusster Mensch aus der Mittelschicht hat meist eine deutlich schlechtere Ökobilanz als eine Oma, die auf 20 Quadratmetern lebt. Ein Urlaubsflug in die USA produziert so viel CO 2 , wie die Durchschnittsoma in zwei Jahren verursacht.«
»Das können Sie schnell ausrechnen. Sie sind Mathematiker.«
»Stimmt.«
» Wie beeinflusst Sie das? Es ist auffällig, dass Sie den Sachen auf den Grund gehen wollen, um dann aus Bausteinen Lösungen zu konstruieren.«
»Das ist sicher mathematisches Denken. Das heißt aber nicht, dass man nur als Mathematiker unterwegs ist.«
»Aber die naturwissenschaftliche Art zu denken hilft Ihnen?«
»Ja. Es gibt allerdings eine Einschränkung: Mathematik als reine Wissenschaft hat einen so hohen Abstraktionsgrad, dass man sich nicht mehr mit alltäglichen Dingen beschäftigt. Das in den Alltag zu übertragen erfordert eine Transformationsleis tung, die nicht trivial ist. Im Studium sieht man davon nichts.
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