Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
Vom Netzwerk:
für kein anderes galt das so offensichtlich wie für Schach. Doch manchmal brauchte es auch echte Gewalt und echte Niederlagen. Manchmal musste man etwas verteidigen, weil es wirklich zählte, und nicht nur, weil es etwas Wichtiges symbolisierte.
    Außerdem war der Belgier kleiner als Alexander.
    Alexanders Faust schnellte gegen den Wangenknochen des anderen. Der sah verdutzt aus, dann zutiefst verletzt, dann resigniert. Er boxte Alexander fast freundschaftlich vor die Brust. Alexander versuchte ihn bei den Haaren zu packen, streifte aber nur seinen Kopf. Der Belgier versuchte, seinen Oberkörper zu fassen zu kriegen und ihn mit einem Tritt in die Kniekehlen auszuhebeln. Alexander versuchte ihn mit dem Knie in die Weichteile zu treffen, traf aber nicht und war froh, dass er nicht getroffen hatte. In weniger als einer Minute war der Spuk wieder vorbei, und die beiden standen einander in gebührendem Abstand gegenüber, erleichtert, dass niemand sie beobachtet hatte.
    »Tut mir leid«, murmelte Alexander.
    Der Belgier schwieg. Seine buschigen weißen Brauen schienen unter dem Gewicht seiner Entrüstung beinahe einzuknicken. Er ließ rechts und links seine Halswirbel knacken, straffte die Schultern und prüfte, ob er unbeschadet sei. Alexander sah ihm zu. EinSchmerz begann sich in seinem Knie auszubreiten und ein Schweigen in seinem Herzen. »Kann ich … sind Sie verletzt?«, fragte Alexander.
    »Bilde dir bloß nichts ein.«
    »Ich gehe jetzt. Sie können ihr ja sagen, dass ich hier war.« Doch es war ihm egal, ob der Belgier es wirklich tat oder nicht.
    Alexander wandte sich zum Gehen. »Hey«, sagte der Belgier, doch Alexander drehte sich nicht um. Da war nichts, was er sehen wollte, und nichts, was der Belgier ihm sagen könnte, wollte er hören. »Du musst mir überhaupt nicht glauben, du Wichser!«, rief der Mann ihm hinterher. Alexander ging schneller, er lief fast. Der Schmerz in seinem Knie pulsierte mit jedem Schritt, die Nachbarn knallten ihre Türen zu, Putz rieselte von der Decke, und er rannte, rannte den Flur hinunter. Doch nicht schnell genug, um zu überhören, wie der Belgier schrie: »Wenn du Augen im Kopf hast, sieh einfach nach ihrem Ehering!«

KAPITEL 8
    Irina
    Moskau, 2006
    Elisabeta wohnte ein paar Kilometer nördlich von meinem Hostel, in einem betongrauen Wohnviertel mit lauter identischen Gebäuden, die sich ausbreiteten wie ein Virus. Je weiter wir nach Norden fuhren, desto enger und unwegsamer wurden die Straßen, also entließ ich irgendwann meinen gleichgültigen Taxifahrer aus der Pflicht und ging zu Fuß weiter. Auf der Suche nach Elisabetas Wohnung bog ich mehrere Mal falsch ab. Ich mühte mich, sechzehnstellige Straßennamen zu entziffern, die sich oft nur in einem Buchstaben unterschieden, und sah in den Gassen flatternde Wäscheleinen, Schwärme androgyner blonder Kinder, riesige Hunde, die niemandemzu gehören schienen. Über mir türmten sich die Wohnungen wie Klippenkolonien.
    Ich hatte meine Suche fast aufgegeben, als ich endlich Elisabetas Laden entdeckte, über dem sie angeblich wohnte. Er lag direkt vor mir, zwischen lauter Häusern mit schnalzenden Russlandfahnen in den Fenstern, halb überfluteten Vorgärten und rauchenden Alten, die stumm auf den Eingangstreppen hockten. Ganz am Ende der Straße sprangen junge Männer mit ihren Fahrrädern von einer Betonrampe, und beim Klang ihrer Schreie fühlte es sich an, als sei die gesamte Nachbarschaft stummer Zeuge irgendeines Verbrechens.
    Elisabetas Tür war, als ich sie endlich fand, unwahrscheinlich schmal. Ich klopfte und fragte mich in der folgenden lang anhaltenden Stille, ob ich gezwungen sein würde, mich würdelos seitwärts hindurchzuwinden. Dann drang unterdrücktes Stöhnen durch die Tür. Offenbar kostete es Elisabeta Kraft aufzustehen, und mich beschlich wieder der schreckliche Verdacht, dass dieses Treffen im Großen und Ganzen keine gute Idee gewesen war. Ein Husten war zu hören, als versuchte Elisabeta irgendetwas auszustoßen, das ihr Körper nicht hergeben wollte. Doch dann erschien keine welke Babuschka mit Sorgenfalten im Gesicht und zahnlosem Kiefer, sondern die Frau an der Tür wirkte einigermaßen kräftig und gesund. Sie war beiläufig hübsch, mit leuchtenden Augen und markanten Zügen – eine Art von Schönheit, die sich lange hält, weil sie es nicht übertreibt –, und ihr Make-up wirkte dezent, aber keineswegs unscheinbar. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, machte jedoch nicht den Eindruck zu

Weitere Kostenlose Bücher