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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Angst ihren Blicken. Ganz offensichtlich machte er sich keinerlei Sorgen darum aufzufallen. Ganz offensichtlich kam er aus dem Westen.
    »Warten Sie auf Elisabeta?«, fragte Alexander. Er bemühte sich, langsam zu sprechen; er wusste, dass schnell gesprochenes Russisch wie ein einziges langes Wort klingen konnte.
    »Ja«, sagte der Mann. Er war jung. Aus der Nähe waren seine Augen von einem noch unbändigeren Blau.
    »Woher kommen Sie?«
    »Aus Brüssel.« Der Mann nieste und wandte sich ab. »Entschuldigung.«
    »Was tun Sie hier?«
    »Das scheint ja alle mächtig zu interessieren, was? Jedes Mal, wenn ich im Verkehr stecken bleibe, kommt irgendwer im schwarzen Regenmantel und fragt mich, was ich hier will, warum ich nicht im Touristenviertel bin und ob ich zu keiner Reisegruppe gehöre. Ihr wisst schon, wie man jemanden zünftig willkommen heißt.«
    Alexander trat einen Schritt zurück. Seit seiner Ankunft in Leningrad hatte er außerhalb des Saigon noch nie eine so lautstarke Beschwerde gehört. Es ärgerte ihn, wie nervös ihn das machte. »Fragen Sie mich nicht«, sagte er. »Ich spiele hier nur Schach.«
    Der Belgier nickte. »Warten Sie auch auf das Mädchen?«
    »Kann schon sein.«
    »Dann spielen Sie also doch nicht nur Schach«, sagte der Mann. Ein Anflug von Belustigung durchzuckte seine Augen wie das Blaulicht eines Krankenwagens.
    »Vermutlich nicht.« Der Mann war ganz schön neugierig und posaunte unangenehm schnell seine Meinung heraus. Alexander war es gewohnt, gleichgültig behandelt zu werden; er war es gewohnt, dass Menschen einander auswichen wie die falschen Enden zweier Magnete. Es war beängstigend, so zu leben, doch zumindest war es nicht ordinär.
    Der Belgier blinzelte mit diesen Augen, deren Blau allmählich westlich aufdringlich wirkte: Es war das Blau der Kornblumen, der Van-Gogh-Gemälde, der UN-Blauhelme. »Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte er. »Wirklich zu schade, dass sie heiraten wird.«
    »Nein. Was? Nein.«
    Der Belgier zuckte mit den Schultern und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, um zu zeigen, dass es ihm gleichgültig war. Seine Augen waren so blau wie ein Erstickungsanfall. »Aber ja. Wussten Sie das nicht? Angeblich ist es ein Parteibonze, der aussieht wie ein Urzeitmonster. Ein Schrank von einem Mann. Ich habe ihn gesehen. Wie aus dem Museum entlaufen.« Alexander sagte nichts. Die Vorstellung, zu diesem Thema irgendetwas sagen zu wollen – oder überhaupt jemals wieder irgendetwas zu sagen –, kam ihm auf einmal unüberwindlich anstrengend vor. Der Belgier hatte einen Ausdruck der Verwunderung aufgesetzt, als sei Alexander das jüngste von einer ganzen Serie von Mysterien der Sowjetunion. »Schade, nicht?«, sagte er. »Ich mochte sie selbst ganz gern. Aber was soll man machen? Die Frau muss sehen, wo sie bleibt.«
    »Ich glaube es nicht«, sagte Alexander, der allmählich anfing, es zu glauben.
    Der Mann stieß einen rauchfreien Luftstrom aus und redete weiter an seiner Zigarette vorbei. »Ganz wie Sie meinen. Das ist typisch für Sie, oder? Für die Sowjets, meine ich.«
    »Was?«, fragte Alexander kläglich.
    »Dass Sie ungeachtet aller Fakten nur das glauben, was Sie wollen. Lassen Sie sich dabei bloß nicht stören. Ich will Ihnen auf keinen Fall im Wege sein. Es scheint ja eine Art traditioneller Volkssport zu sein.«
    Vielleicht war es wirklich nicht wahr. Vielleicht hatte der Belgier sich geirrt, oder er meinte das andere Mädchen, die Mitbewohnerin, und hatte die beiden verwechselt. Erstens würde Elisabeta nie einen Funktionär heiraten, und zweitens – das hoffte Alexander inständig, und im nächsten Moment tat es ihm leid –würde kein Funktionär auf die Idee kommen, Elisabeta heiraten zu wollen. Das konnte doch nicht gut für seine Karriere sein.
    »Hey«, sagte der Belgier, »jemand zu Hause?« Er wedelte mit der Hand vor Alexanders Gesicht herum und schnippte ein paarmal mit den Fingern. Das Blau seiner Augen erinnerte Alexander an winterlich durchgefrorene Hände, die niemand wärmte und hielt. Elisabeta und ein Parteifunktionär. Vielleicht passte es gar nicht so übel. Vielleicht hätten die beiden sich eine Menge zu erzählen.
    »Ihr Sowjets«, sagte der Belgier, »seid einfach zu komisch. Wenn es um eure Nutten geht, werdet ihr plötzlich sentimental.«
    Alexander wurde von dem überwältigenden Verlangen gepackt, den Mann zu schlagen, und zwar weder intellektuell noch metaphorisch. Spiele waren sublimierte Kriegshandlungen, und

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