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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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sobald es beendet ist.« »Nein - bitte sagen Sie ihr, dass es dringend ist. Ich muss sofort mit ihr sprechen.«
    Im Hintergrund wurde gemurmelt und geraschelt, dann war eine andere Stimme in der Leitung - eine tiefe, glatte, sinnliche Stimme, die mit gedehnten Vokalen sprach.
    »Hallo-o. Hier ist Cindy Bad Eel.«
    »Oh, hallo, Mrs. Bad Eel. Ich meine, Ms. Ich brauche dringend Ihre Hilfe. Ich meine, eine Freundin braucht Ihre Hilfe.« Vor lauter Angst, dass sie auflegen könnte, fing ich an zu stottern. »Mrs. Naomi Shapiro. Sie ist im Krankenhaus. Sie hat sich die Hand gebrochen. Und jetzt will man sie nicht mehr nach Hause zurücklassen. Sie wollen sie in ein Heim stecken.«
    »Ganz langsam, bitte. Mit wem spreche ich?«
    »Mein Name ist Georgie Sinclair. Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen.«
    »Ja, ich weiß, Ms. Sinclair. Immer mit der Ruhe. Holen Sie tief Luft. Und jetzt zählen Sie: eins, zwei, drei, vier. Entspaannen! So, das ist besser. Würden Sie sich als ihre Betreuerin bezeichnen - als inoffizielle Betreuerin?«
    »Ja - ja, Betreuerin. Inoffiziell. Das bin ich eindeutig.«
    Wellen der Ruhe umfingen mich. Plötzlich kam ich mir sehr betreuend vor.
    »Wie alt ist die Dame, um die es geht?«
    Ich zögerte. »Ich weiß es nicht genau. Sie ist ziemlich alt, aber bist jetzt kam sie gut zurecht.« »Aber dann hatte sie einen Unfall, sagten Sie?«
    »Der Unfall ist auf der Straße passiert, nicht bei ihr zu Hause. Sie ist auf dem Eis ausgerutscht. Das hätte jedem passieren können.«
    »Und Sie sagen, dass jemand da war, um ihre Wohnsituation zu überprüfen?«
    »Jemand aus dem Krankenhaus. Mrs. Goodney. Es war ein bisschen unordentlich im Haus, aber so schlimm war es nicht.«
    Eine lange Pause entstand. Ich rechnete schon mit einer ablehnenden Antwort, den üblichen Ausreden dafür, dass sie nichts tun würde. Die Quote ihrer Rückrufe war nicht sehr überzeugend. Dann sprach sie wieder, ganz langsam.
    »Es steht uns nicht zu, anderen Menschen einen Lebensstil vorzuschreiben. Ich werde mir das Haus ansehen, aber ich brauche die Erlaubnis der Dame. In welchem Krankenhaus ist sie?«
    Sobald ich aufgelegt hatte, lief ich ins Schlafzimmer, stopfte ein paar Sachen in eine Stofftasche - Stellas alten Bademantel, ein Paar Hausschuhe, eine Bürste, ein Nachthemd - und machte mich auf den Weg ins Krankenhaus. Ich wollte Mrs. Shapiro vorwarnen und dafür sorgen, dass sie nichts Falsches sagte. Ich wollte nicht, dass sie mit einem neuerlichen Anfall von Sturheit ihre Chance verspielte.
     
    Der Regen hatte aufgehört, als ich zur Bushaltestelle rannte, doch auf der Straße standen Pfützen, und große feuchte Wolken hingen wie graue Wäsche tief über den Dächern. Ich war allein im Oberdeck von Bus Nummer 4, der schwankend durch die inzwischen vertrauten Straßen zuckelte, die tropfnassen Bäume streifte und so dicht an den Häusern vorbeifuhr, dass ich den Leuten ins Schlafzimmer blicken konnte. Ich erinnerte mich an meine einsamen Nachmittage, als ich durch die Straßen gewandert war und sehnsüchtig ins Leben anderer Leute gespäht hatte. Was war mit mir los gewesen? Es schien eine Ewigkeit her. Jetzt war ich so mit Mrs. Shapiro und Canaan House beschäftigt, dass ich kaum Zeit hatte, über irgendetwas anderes nachzudenken. Unter dem Dach des Wartehäuschens vor dem Krankenhauseingang drängten sich wie üblich die Raucher. Bisher war ich immer ohne einen Blick vorbeigegangen, doch diesmal rief jemand nach mir. »Hallo! Georgine!«
    Ich musste zweimal hinsehen, bevor ich Mrs. Shapiro erkannte. Sie wurde von einem rosa Chenillebademantel fast verschluckt, der mehrere Nummern zu groß für sie war und am Boden schleifte. Darunter sahen die Spitzen von übergroßen Hausschuhen hervor - die Art, wie sie Kinder tragen, mit Tiergesichtern. Ich glaube, das Motiv war der
König der Löwen.
Ben hatte mal ein ähnliches Paar gehabt. Ihre Begleiterin war die übergeschnappte Dame, mit der sie sich neulich gestritten hatte. Jetzt schienen die beiden die besten Freundinnen. Sie teilten sich eine Zigarette, von der sie abwechselnd tiefe Züge nahmen.
    »Mrs. Shapiro - ich habe Sie gar nicht erkannt. Hübscher Bademantel.«
    »Gehört der alten Frau im Bett neben mir. Tot.« Sie nahm der Übergeschnappten, die mehr als ihren Anteil tiefer Züge gehabt hatte, die Zigarette ab. »Die Zigaretten waren in der Tasche.«
    »Auch hübsche Hausschuhe.« »Hat mir die Schwester gegeben.«
    »Mir hat sie die hier gegeben«, sagte die

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